Veröffentlicht: 18.12.08
Kernenergie

„Unser Wissensstand ist heute nahezu perfekt“

Horst-Michael Prasser leitet seit zwei Jahren das Labor für Kernenergiesysteme an der ETH Zürich und tritt für die Kernenergie in Kombination mit erneuerbaren Energiequellen ein. Er vermisst in der derzeitigen Debatte um den zukünftigen Betrieb von Kernkraftwerken in der Schweiz eine faktenbasierte Abwägung von Kosten, Risiken und Nutzen aller Energieformen.

Samuel Schläfli
„Die Kernenergie kann im Kampf gegen den Klimawandel einen wichtigen Beitrag leisten, indem fossile Energieträger durch Strom ersetzt werden“: Horst-Michael Prasser, Professor am Labor für Kernenergiesysteme.
„Die Kernenergie kann im Kampf gegen den Klimawandel einen wichtigen Beitrag leisten, indem fossile Energieträger durch Strom ersetzt werden“: Horst-Michael Prasser, Professor am Labor für Kernenergiesysteme. (Grossbild)

Herr Prasser, die Zürcher Bevölkerung hat sich am 30. November an der Urne gegen die Atomenergie ausgesprochen. Können Sie die Bedenken der Bevölkerung gegenüber Kernenergiesystemen verstehen?

Ja, ich habe volles Verständnis dafür. Die Produktion von Kernenergie hat eine unangenehme Besonderheit; Reaktoren enthalten ein enorm hohes radiotoxisches Gefahrenpotential. Leider wird es keine Nutzung der Kernspaltung ohne den Umgang mit grossen Mengen radioaktiver Stoffe geben. Doch wir haben gelernt zu verhindern, dass diese freigesetzt werden können und darauf kommt es letztlich an.

Denken Sie, dass die Bevölkerung dieses Gefahrenpotential realistisch einschätzen kann?

Nein, ich merke anhand von Diskussionen und Leserbriefen in den Medien oft wie viel Missverständnisse bezüglich der Kernenergie bestehen. Es fehlt in der heutigen Diskussion ein nüchterner Vergleich von unterschiedlichen Technologien. Wenn sich die Öffentlichkeit nur ein wenig mit dem heute erreichten Sicherheitsniveau in KKWs auseinandersetzen würde, könnten viele Bedenken aus dem Weg geräumt werden. Doch die Materie ist komplex; wohl deshalb ist es bis heute nicht gelungen, die Bürger adäquat über die Kernenergie zu informieren.

In den vergangenen Wochen gingen gleich zwei neue Gesuche für Rahmenbewilligungen von neuen Kernkraftwerken in Mühleberg und Beznau beim Bund ein, ein drittes wurde vor sechs Monaten für ein neues KKW in Niederamt eingereicht. Werden die Bauvorhaben von Regierung und Volk gutgeheissen, so käme es zum Bau der dritten Generation von KKWs in der Schweiz. Welche Vorteile haben diese gegenüber den bestehenden Kernkraftwerken der zweiten Generation?

Anlagen der dritten Generation werden selbständig, ohne Eingriffe der Operatoren, mit einem Störfall fertig, bei dem die Sicherheitssysteme soweit versagen, dass der Reaktorkern schmilzt. Bei älteren Anlagen ist dazu noch der Mensch nötig.

Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass es je zu einem solchen Kernschaden kommt?

Probabilistische Sicherheitsanalysen kommen für KKWs der dritten Generation auf eine Wahrscheinlichkeit in der Grössenordnung von 10-7 Ereignissen pro Jahr – ein Ereignis alle 10 Millionen Jahre. Das bezeichnet jedoch lediglich die Wahrscheinlichkeit eines Kernschadens, nicht die Wahrscheinlichkeit für den Austritt von radioaktiven Stoffen, welcher eine grossräumige Evakuation nötig machen würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gebiet durch eine Kernschmelze mit grossen Mengen an Radioaktivität verseucht wird, liegt nochmals etwa zwei Grössenordnungen tiefer, also bei einem Ereignis alle Milliarden Jahre.

Und wie sieht diese Wahrscheinlichkeit in den fünf derzeit betriebenen KKWs in der Schweiz aus, die ja noch bis zu zwanzig Jahre in Betrieb bleiben sollen?

Dabei müssen Sie bedenken: Ein Kernkraftwerk ist eine Art lebendiger Organismus, dessen Sicherheit ständig optimiert wird. Deshalb sind die heutigen Kraftwerke nicht mehr mit dem Stand zur Zeit ihres Baus vor 20 bis 30 Jahren zu vergleichen. Alle fünf KKWs der zweiten Generation in der Schweiz wurden über die Jahre hinweg nachgerüstet – zum Teil überstiegen die Kosten der Nachrüstungen sogar diejenigen des ursprünglichen Baus. Heute liegt die Wahrscheinlichkeit eines Kernschadens für diese KKWs rechnerisch in der Grössenordnung von einem Ereignis in einer Million Jahre.

Wäre ein Unfall wie in Tschernobyl mit den heute betriebenen KKWs überhaupt noch möglich?

Der Reaktor von Tschernobyl war von Anfang an eine Fehlkonstruktion. Er wurde aufgrund von Auslegungsfehlern sehr rasch überkritisch, konnte deshalb nicht mehr kontrolliert werden, wodurch es zur Explosion kam. Ausgelöst wurde dieser Vorgang durch eine Reihe grober Verstösse der Operateure gegen die Betriebsvorschriften. Zudem hatte der Reaktor keine druckfeste Beton-Ummantelung, kein Containment. Die Anlage entsprach schon bei ihrer Errichtung nicht den damals international gängigen Sicherheitsstandards. Ein solcher Reaktor wäre in Westeuropa nie bewilligt worden. Das war damals nur in der Sowjetunion möglich, wo die Errichter, Betreiber und die Genehmigungsbehörden, quasi im gleichen Büro sassen.

Tschernobyl liegt bereits 22 Jahre zurück. Doch was ist mit einem Störfall wie in Forsmark, Schweden, vor zwei Jahren? Dort liefen nach einer Abtrennung des KKWs vom Stromversorgungsnetz nur zwei der vier Diesel-Notstromaggregate an, wichtige Instrumente wurden durch einen Kurzschluss zerstört und im Kraftwerk funktionierten nur zwei von vier Noteinspeisepumpen zur Kühlung der Brennstäbe. Umweltorganisationen sprachen von einem „Beinahe-Tschernobyl“. Wie nahe war man damals wirklich am Super-GAU?

Auf der Internationalen Nuklearen Ereignisskala wurde der Zwischenfall mit 2 eingestuft. Tschernobyl erhielt natürlich den Höchstwert von 7. Es wurde während des ganzen Störfalls keine Radioaktivität frei und es kam kein Mensch zu Schaden. Obwohl mehrere Systeme versagten, fuhren die verbleibenden Sicherheitssysteme den Reaktor sicher hinunter – so sind AKWs heute dimensioniert. Trotzdem wies der Zwischenfall natürlich auf schwerwiegende Fehler im Sicherheitssystem hin, was schliesslich zu Anpassungen an vier ähnlichen Reaktoren führte.

Wir sprachen bislang nur von Leichtwasser-Kernkraftwerken, die durch die Spaltung von Uran betrieben werden und weit verbreitet sind. Es gibt jedoch auch noch andere Technologien, wie die mit Plutonium betriebenen Brutreaktoren oder die kernschmelzfesten Kugelbettreaktoren. Weshalb werden diese nicht genutzt?

Wir haben noch zuwenig Erfahrung mit diesen Technologien. Sie sind heute weder serientauglich noch genehmigungsreif. Leichtwasserreaktoren gibt es heute quasi von der Stange, deshalb sind sie auch vergleichsweise günstig. Zudem verfügen wir weltweit insgesamt über 10'000 Jahre Betriebserfahrung mit Leichtwasserreaktoren, ohne dass es je zu einer gravierenden Freisetzung radioaktiver Stoffe gekommen wäre. Selbst beim Unfall in Three Mile Island in den USA 1979 blieb der Austritt von Radioaktivität unbedeutend. Tschernobyl war kein typischer Leichtwasserreaktor, da er Graphit zum Abbremsen der Neutronen verwendete. Ich glaube wir können den Wissensstand in Bezug auf die Sicherheit von Leichtwasserreaktoren heute als nahezu perfekt betrachten.

Die meisten Energieexperten sind sich trotzdem einig, dass die Zukunft den erneuerbaren Energien gehört – so steht es auch in der Energiestrategie der ETH Zürich, die vom Energy Science Center (ESC) ausgearbeitet wurde. Angenommen in der Schweiz würden drei neue KKWs gebaut, fehlen dann nicht der Anreiz und das Geld für die Forschung und Entwicklung von alternativen Energietechnologien?

Ich bin auch Teil des ESC und ein Verfechter der erneuerbaren Energien – es wäre Wahnsinn nicht diesen Weg einzuschlagen. Doch erneuerbare Energien tragen bis heute im Vergleich zur Wasserkraft und der Kernenergie nur einen sehr geringen Anteil zum Gesamtstrombedarf bei. Meiner Meinung nach ist es gefährlich zu glauben die erneuerbaren Energien könnten sowohl den ansteigenden Energiebedarf abdecken als auch die Kernenergie und die fossilen Brennstoffe ersetzen. Erneuerbare Energien und Kernenergie müssen Hand in Hand gehen. Die Kosten von neuen KKWs sind dabei im Vergleich zum Nutzen den sie der Gesellschaft bringen relativ gering.

Sie betrachten also die Kernenergie auch als wirkungsvolle Massnahme gegen die steigenden CO2-Emmissionen?

Die Kernenergie kann im Kampf gegen den Klimawandel einen wichtigen Beitrag leisten, indem fossile Energieträger durch Strom ersetzt werden. Anhand von Wärmepumpen, die mit Strom betrieben werden, nutzt man zum Beispiel Erdwärme zum Heizen von Gebäuden. Auch punkto Mobilität ist die Elektrizität auf dem Vormarsch, denken Sie nur an die öffentlichen Verkehrsmittel oder an Elektroautos.

Trotzdem, laut der Energiestrategie der ETH Zürich soll die Kernenergie nur dann langfristig zum zukünftigen Energiemix beitragen, wenn die Entwicklung zu noch sichereren Reaktoren der Generation Vier führt.

Da bin ich etwas anderer Meinung. Selbst im Idealfall, in welchem unsere Gesellschaft ihren Energiebedarf vollumfänglich aus erneuerbaren Energiequellen schöpft, bleibt die Kernenergie attraktiv. Zum Beispiel ist der Kupferbedarf für die Photovoltaik fünfzig Mal höher als bei einem Kernkraftwerk – aus der Kupfergewinnung und Verarbeitung resultieren reale Umweltbelastungen. Hinzu kommen die Abfälle, die während des Lebenszyklus von Solarzellen anfallen. Hier hat die Kernenergie einen entscheidenden Vorteil: Kleine Abfallvolumina, die aus einem Prozess mit hoher spezifischer Wertschöpfung stammen. Ähnliches gilt auch für andere Rohstoffe wie Aluminium, Eisen oder Beton. Die Kernenergie kann wesentlich zu einem zukünftigen umweltfreundlichen Energiemix beitragen.

Ihre Professur wird von Swissnuclear finanziert, einer Interessengruppe der Kernkraftwerk-Betreiber. Bestehen da nicht Potentiale für Interessenskonflikte?

Nicht direkt ich, sondern die ETH Zürich wird für die Lehre und Forschung im Bereich der Kernenergie unterstützt. Für mich gilt genauso Forschungsfreiheit wie für jeden anderen Professor auch. Swissnuclear erwartet von der Hochschule einzig eine Lehre auf höchstem Niveau, damit auch in der Schweiz gut ausgebildetes akademisches Personal verfügbar ist.

Um die politische Zukunft der Kernenergie im Raum Zürich steht es schlecht, welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Nuklearforschung an der ETH?

Die ETH Zürich ist eine eidgenössische Hochschule und deshalb nicht direkt von Entscheiden der Stadt oder des Kantons abhängig. Zürich wird, so der Beschluss, noch rund dreissig Jahre Strom aus Kernkraftwerken zu seinem Vorteil einsetzen. Die weitere Forschung und Ausbildung auf diesem Gebiet werden helfen, diese Nutzung sicher und zuverlässig zu gestalten.

Master of Science in Nuclear Engineering

Seit Herbst 2008 findet erstmals der gemeinsam von ETH Zürich und EPFL angebotene Masterstudiengang in Nuclear Engineering statt. Eine internationale Klasse aus zwölf Ingenieuren vertieft während drei Semestern Kenntnisse in Gebieten wie Nukleare Energiesysteme, Reaktortechnologie, Nukleare Brennstoffe sowie Nuklearsicherheit. Das erste Semester findet an der EPFL, das zweite an der ETH Zürich statt. Die abschliessende Masterarbeit kann je nach Interesse am Paul Scherrer Institut an der EPFL oder an der ETH Zürich geschrieben werden. Laut Horst-Michael Prasser, der den Studiengang mit aufgebaut hat, besteht in der Industrie zurzeit eine grosse Nachfrage nach Ingenieuren, die breite Kenntnisse in verschiedenen Gebieten der Kerntechnologie mitbringen. Mögliche Arbeitgeber für die Absolventen ortet Prasser bei den Kernkraftwerken, Reaktorherstellern, staatlichen Kontrollbehörden, Forschungsinstituten oder bei der Konstruktion von Endlagerstätten. Weitere Informationen zum Studiengang: http://www.master-nuclear.ch/