Atomenergie: Antwort auf den Kommentar vom 29.12.08

Ich möchte meine Position verteidigen, der Wissensstand in Sachen Sicherheit von Leichtwasserreaktoren sei nahezu perfekt.
Wir verfügen über weit entwickelte Methoden zur Analyse und Vorhersage des Verhaltens der Gesamtanlage eines Kernkraftwerks sowie aller seiner Teile auf Grundlage konsistenter Theorien. Diese Modelle betreffen durchaus nicht nur das technische Anlagenverhalten, sondern auch die Beschreibung von Prozessen mit Zufallscharakter und die Modellierung des menschlichen Verhaltens. Von einem nahezu perfekten Wissensstand spreche ich, weil alle diese Modelle nicht nur eine theoretische Basis haben, sondern durch Experimente untermauert sind.

Meiner Erfahrung nach ist es z.B. in der Öffentlichkeit kaum bekannt, dass Ingenieure die Auswirkungen von Erdbeben an einer ganzen Reaktoranlage getestet haben, natürlich ohne dabei den Reaktor mit originalem Spaltstoff zu beladen, aber eben unter realistischen, künstlich erzeugten Erdbebenlasten. Gleiches gilt für die Auswirkungen von Flugzeugabstürzen auf das Reaktorgebäude oder den Raketenbeschuss von Transportbehältern für radioaktiven Abfall. Die Kühlsysteme von Leichtwasserreaktoren und die Schutzfunktion des Containments wurden an grossskaligen thermohydraulischen Versuchsanlagen im Detail nachgebildet und getestet. Unter den vielen für diese Forschung verwendeten Versuchsanlagen war auch ein Testreaktor mit originaler nuklearer Brennstoffbeladung. Wenn heute über Sicherheitssysteme gesprochen wird, die angeblich in der Lage sein sollen, die mehrere tausend Grad heisse Kernschmelze aufzuhalten und sicher aufzufangen, so ist dies nicht eine ausschliesslich auf theoretischen Überlegungen beruhende Aussage, sondern ist mit Versuchen hinterlegt, die eines Teils mit grossen Mengen nichtradioaktiver Schwermetallschmelzen, anderen Teils mit originalem Kernmaterial durchgeführt wurden.
Wenn heute Wahrscheinlichkeiten eines Kernversagens oder eben auch die im Interview genannten Restrisiken für eine katastrophale Freisetzung von radioaktivem Material Zahlenwerte angegeben werden, so basiert dies auf umfangreichem statistischen Material über die Ausfallwahrscheinlichkeiten von Sicherheitssystemen, aber eben auch auf der Einbeziehung der Wahrscheinlichkeit für Fehlhandlungen der Operateure.

Ich bin nicht der Ansicht, dass die Tatsache, wir könnten die Intensionen von Ausserirdischen nicht vorhersehen, oder ähnliche Unschärfen bei der Einschätzung externer Einflussfaktoren, etwas mit der Reife des Kenntnisstandes in Sachen Sicherheit von Leichtwasserreaktoren zu tun hat. Vor wenigen Monaten ist z.B. die Schweizer PEGASOS-Studie zu dem Ergebnis gekommen, ganz starke Erdbebenereignisse seinen mit höheren Wahrscheinlichkeiten anzunehmen, als dies vorher getan wurde. Die Reaktorsicherheitsforschung war mit ihren Methoden in kurzer Zeit in der Lage, diese veränderten Randbedingungen in die Rechenmodelle für die Wahrscheinlichkeiten von grossen Radioaktivitätsfreisetzung einfliessen zu lassen und damit die Entscheidungsgrundlage dafür zu liefern, ob oder unter welchen zusätzlichen Bedingungen die Kernkraftwerke weiter betrieben werden können oder nicht.
Wissenschaftliche Methoden werden hier immer eine von Null verschiedene Wahrscheinlichkeit liefern. Für die Entscheidung, ob Kernenergie akzeptabel ist, kann die Wissenschaft nur den fachlich begründeten Input liefern, damit die Gesellschaft das ermittelte Risiko mit den Risiken vergleichen kann, die sich aus einem Verzicht auf Kernenergie ergeben.

Ich möchte auch den Standpunkt verteidigen, dass man Reaktoren trotz eines in Sachen Sicherheit nicht gänzlich perfekten Wissensstand sicher betreiben kann. In der Kerntechnik, aber auch in anderen Bereichen der Ingenieurwissenschaften, gibt es bewährte Techniken, um Lücken im Informations- und Wissensstand zu kompensieren. Dies ist zunächst das Prinzip der konservativen Auslegung. Für ungünstige Einflussgrössen, die nicht genau quantifiziert werden können, wird der ungünstigste Wert angenommen und noch mit einem zusätzlichen Sicherheitsabstand versehen. Dies führt zu einer Überdimensionierung der Anlage, die sie robust macht. Wo man inhärent sichere Wirkprinzipien zur Hand hat, sind diese anzuwenden.
Das betrifft beispielsweise Rückkopplungseffekte von der Reaktorleistung auf die Kettenreaktion, die so eingestellt werden können, dass die Kettenreaktion gedämpft wird, wenn die Temperaturen im Reaktor anwachsen. Ein Selbstregelverhalten ist die Folge, man spricht von inhärent sicherer Kernauslegung. Auch die Technik der Diversifizierung von Sicherheitssystemen ist ein Mittel zur Unterdrückung des Einflusses von Kenntnislücken. Das gleiche Sicherheitsziel wird hierbei durch verschiedene Systeme mit unterschiedlichem physikalischem Wirkprinzip reicht, wodurch ein unvorhergesehenes Versagen eines Wirkprinzips durch das Vorhandensein der anderen, diversitären Systeme abgefangen wird.

Diese Techniken, kombiniert mit einem mehrfach gestaffelten Barrierensystem gegen die Ausbreitung radioaktiver Stoffe sowie einer stringeten, vom Betreiber unabhängigen Aufsicht haben sich in der Praxis bewährt. Auch zu einem Zeitpunkt, wo der Wissensstand noch nicht so hoch war, wie heute, war es möglich, Kernkraftwerke sicher zu betreiben, wenn die genannten Grundregeln eingehalten wurden. Die Katastrophe von Tschernobyl geht auf mehrfache Verstösse der Betriebsmannschaft in einer nicht nach den oben genannten Prinzipien ausgelegten Anlage zurück. Wenn es im Kernkraftwerk TMI-2 in Harrisburg trotz einer Kernschmelze nicht zu gravierenden Freisetzungen von radioaktiven Stoffen kam, so ist dies der konsequenten konservativen Auslegung entscheidender Teile der Anlage zu verdanken, obwohl einige der Detailprozesse zum Zeitpunkt der Havarie noch nicht genügend bekannt waren. Mittlerweile sind diese Störfälle wissenschaftlich ausgewertet und haben zu dem von mir als nahezu perfekt bezeichneten Wissensstand beigetragen.

Was die Forschung betrifft, so ist ein fortgeschrittener Erkenntnisstand noch lange kein Grund aufzuhören. Es wird, und das ist in allen Bereichen der Wissenschaft so, nur noch schwerer und erfordert wachsende Anstrengungen, den weiteren Fortschritt voranzutreiben. Ich würde auch den Kenntnisstand bezüglich der Funktion von Verbrennungsmotoren als nahezu perfekt bezeichnen nach über 100 Jahren Forschung und Entwicklung auf diesem Gebiet. Aber es ist klar, dass Zuverlässigkeits- und Effizienzanforderungen, und bezogen auf das Gesamtprodukt Auto auch die Erwartungen an die Sicherheit, stets mit dem Erreichten mitwachsen, so dass hier niemand auf die Idee käme, die Entwicklung neuer Antriebe einzustellen. Genau so ist es meiner Meinung nach im Bereich der Sicherheit der bewährten Technologie der Leichtwasserreaktoren. Bei anderen, für die Zukunft eventuell interessant werdenden neuen Reaktortypen bleibt hier noch weit mehr grundlegendes zu tun.

Ein Leser hat das Gefühl, ich möchte ihn nur beruhigen. In der Tat - meiner Meinung nach ist ein Zurückfinden zur Realität des täglich exerzierten sicheren Betriebs der Kernkraftwerke in der Schweiz schon zu empfehlen. Wenn heute noch sicherere Reaktortypen für Neubauten zur Verfügung stehen, so wird hier auf einer positiven und nicht auf einer negativen Erfahrung aufgebaut. Weder Technik, noch Mensch, noch der Wissensstand des Menschen kann perfekt sein. Daraus resultiert ein Restrisiko. Der Kenntnisstand in der Sicherheit von Leichtwasserreaktoren ist schon deshalb nahezu perfekt, weil wir heute in der Lage sind, dieses Restrisiko abzuschätzen und die Methoden dafür in der Hand haben, es sehr klein zu halten und kontinuierlich zu verringern.

Michael Prasser - 09.01.09

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