Veröffentlicht: 08.03.12
Science

Wenn das Vorurteil zum Nachteil wird

Forscher der ETH Zürich sind der Frage nachgegangen, ob Vorurteile unter bestimmten Bedingungen sinnvoll sind. Mit Hilfe der Spieltheorie haben sie verschiedene Szenarien entworfen und diese jeweils 15 Mio. Mal durchgespielt. Die Forscher kommen zum Schluss: Wer Vorurteile hat, ist schnell im Nachteil, weil er nichts dazu lernt und viele Chancen verpasst.

Franziska Schmid
Wer Vorurteile hat, steckt schnell mal jemanden in eine Schublade. ETH-Forscher erklären, warum man mit Schubladen-Denken zu viele Chancen verpasst. (Bild: flickr)
Wer Vorurteile hat, steckt schnell mal jemanden in eine Schublade. ETH-Forscher erklären, warum man mit Schubladen-Denken zu viele Chancen verpasst. (Bild: flickr) (Grossbild)

Vorurteile gelten gemeinhin als irrational, weil sie sich nicht genügend auf Erfahrungswerten abstützen, und als unethisch, weil sie zu Fehlurteilen und Diskriminierung führen. Trotzdem ändert das nichts an der Tatsache, dass wir alle über den Daumen peilen, wenn es darum geht, andere zu beurteilen. Sind Vorurteile vielleicht eine besonders effektive Entscheidungsmethode, die sich im Laufe der Evolution entwickelt hat, um Gefahren schnell zu beurteilen? Dirk Helbing, Professor für Soziologie, und Thomas Chadefaux haben untersucht, unter welchen Bedingungen intuitiv gefällte Urteile sinnvoll sein können und wann sie in die Irre führen. Ihre Resultate haben sie auf PLoS One veröffentlicht.

Schnelle Erfolge mit Schwarz-Weiss-Denken

Für die Untersuchung verwendeten die Forscher die wissenschaftliche Methode der Spieltheorie. Die im Computer simulierten Spieler verhalten sich entweder freundlich oder unfreundlich in Abhängigkeit von ihren Eigenschaften (z.B. Geschlecht, Alter, Vermögen, Religion, oder kultureller Hintergrund). Wenn man freundlich ist und einem Unfreundlichen begegnet, wird man übers Ohr gehauen. Wer falsche Entscheidungen trifft, wird ausgetrickst. Um dies zu vermeiden, muss man die anderen Spieler kennenlernen und eine geeignete Entscheidungsstrategie anwenden.

Die Forscher testeten fünf verschiedene Strategien. Beim Szenario « ALLD» gehen die Spieler auf Nummer sicher und sind immer unfreundlich. Damit profitieren sie aber auch nicht von einem freundlichen Gegenüber und verpassen viele Gelegenheiten, erfolgreich zu sein. Die Strategie «Tit-For-Tat-(TFT)» verfährt nach dem Prinzip «Wie Du mir, so ich Dir». Sie beginnt freundlich und imitiert danach das Verhalten des jeweiligen Gegenübers. In der Spieltheorie gilt die TFT-Strategie als eine der erfolgreichsten, quasi als Massstab für alle anderen Strategien. Bei den drei weiteren Strategien P1, P3 und P5 ist entscheidend, wie viele Merkmale des Gegenübers man berücksichtigt – sie stehen also für einen unterschiedlichen Grad von Vorurteilen. Bei P1 entscheidet nur ein einziges Merkmal des Gegenübers darüber, ob man freundlich ist oder nicht. Es handelt sich also um ein extremes Schwarz-Weiss-Denken. Bei P5 werden fünf Merkmale berücksichtigt, was die Entscheidung wesentlich differenzierter macht. Bei allen fünf Szenarien variierten die Forscher die Anzahl der Teilnehmer und die Dauer des Spiels und spielten die Simulation insgesamt 15 Mio. Mal durch.

Entscheidend ist, wie lange das Spiel dauert und wie viele Teilnehmer beteiligt sind. Dauert das Spiel nur kurz und nehmen viele daran teil, sinkt die Chance, dass zwei Spieler mehrmals aufeinandertreffen. Es bleibt also weniger Zeit, die anderen kennenzulernen. In diesem Fall ist das unfreundliche ALLD-Verhalten das erfolgreichste. Ähnlich wirksam ist die Schwarz-Weiss-Strategie P1. Die «Wie Du mir so ich Dir»-Strategie hat demgegenüber den Nachteil, dass sie zuerst das Verhalten des Gegenübers kennenlernen muss. In der Gesamtbetrachtung sind die ALLD- und die Schwarz-Weiss-Strategie P1 anfangs siegreich. Doch ihre Erfolgskurve sinkt rapide ab, wenn das Spiel länger dauert. Genau umgekehrt sieht es bei der differenzierten Strategie P5 und bei der «Wie Du mir so ich Dir»-Strategie aus: Der Erfolg stellt sich erst nach einiger Zeit ein, hält sich dann aber auf konstant hohem Niveau. Vorurteilsbehaftete Strategien sind also für kurze Zeit erfolgreich und rational. Da sie aber nicht aus Fehlern lernen und ihr Verhalten nicht anpassen, unterliegen sie auf Dauer jenen Strategien, die differenzierter auf ihr Gegenüber reagieren. «Bildlich gesprochen: wenn auf einer Insel nur fünf Personen sitzen oder sich die Personen auf einer Insel schon lange kennen, dann sind Vorurteile einfach sinnlos», erklärt Thomas Chadefaux.

Realitätsnahe Bedingungen

Doch wie nahe sind diese Simulationen an der Realität? Was sagen sie über unseren Alltag aus? «Vorurteile sind – nicht zuletzt deshalb, weil sie schnell und einfach gebildet werden – in der Alltagswelt oft bequem, scheitern aber, wenn die Umgebung komplexer wird», resümiert Dirk Helbing. Um das zu verdeutlichen, berücksichtigten die Forscher Störungen, wie sie in der realen Welt existieren. Was passiert zum Beispiel, wenn Teilnehmer falsch beurteilt werden und bestimmte Merkmale nicht unbedingt etwas mit dem Verhalten zu tun haben? Dann gelingt es vorurteilsbehafteten Spielern nicht, ihre Strategie anzupassen. Je länger sie spielen, desto schlechter kommen sie im Vergleich weg. Differenziertere Strategien bewähren sich besser. Und was passiert, wenn sich die Teilnehmer einfach zufällig verhalten? In diesem Fall verschlechtert sich das Resultat bei allen Strategien. Je mehr Spieler jedoch zufällig handeln, desto miserabler schneiden Spieler mit Vorurteilen ab.

Andersartigkeit erkennen und nutzen

«Während es am Anfang effizient ist, auf ein einzelnes Merkmal zu reagieren, darf man in einer komplexen Welt nicht aufhören dazuzulernen, denn sonst verpasst man viele gute Chancen», erklärt Helbing. Ein differenzierteres – und auf lange Sicht erfolgreicheres – Urteilsvermögen zu entwickeln, benötige jedoch Zeit. «Die erfolgreichste Strategie ist, zuerst mit einfachen Daumenregeln zu beginnen und diese dann stetig zu verfeinern», so Helbing. Wer vielfältige Erfahrungen macht und bereit ist, sein Verhalten dementsprechend anzupassen, schneidet am besten ab. Für die beiden ETH-Forscher ist deshalb die Frage zentral, wie man gezielt dazulernen kann. Überträgt man die Forschungsergebnisse auf die Gesellschaft, bedeutet dies, dass man den Austausch unterschiedlicher Menschen suchen und fördern sollte. «Besonders Minderheiten haben das Problem, dass man sie oft falsch behandelt, weil man sie nicht gut genug kennt. Es geht also darum, mehr mit andersartigen Menschen in Kontakt zu kommen, um die Chancen erfolgreicher Interaktionen mit ihnen nicht zu vertun. Soziale Netzwerke spielen hier eine wichtige Rolle», sagt Helbing.

Spieltheorie

Mit Hilfe der Spieltheorie können verschiedene Entscheidungssituationen mathematisch modelliert und im Computer simuliert werden. Wie bei Unterhaltungsspielen gibt es bestimmte Regeln. So bestimmt beispielsweise eine Auszahlungsfunktion, welchen Erfolg man hat, wenn die selbst gewählte Entscheidung auf die des Gegenübers trifft. Wer gewinnt, hängt also von der Art des Spiels und den Entscheidungen der Spieler ab, und damit von den zugrunde gelegten Entscheidungsstrategien.

Literaturhinweis:

Chadefaux T, Helbing D (2012) The Rationality of Prejudices. PLoS ONE 7(2): e30902. doi:10.1371/journal.pone.0030902