Veröffentlicht: 10.06.08
Mittwochskolumne

ECTS und ETCS

Ulrich Weidmann
Ulrich Weidmann, Professor für Verkehrssysteme.
Ulrich Weidmann, Professor für Verkehrssysteme. (Grossbild)

Um es vorwegzunehmen: Ich bin ein bekennender Europäer mit internationalen Wurzeln. Der Austausch über alle Grenzen ist für jede Kultur lebenswichtig, fördert Kenntnisse und vermittelt Einsichten. Soweit so gut.

Wie mittlerweile fast alles im Leben ist nun auch der internationale Austausch in der Hand spezialisierter Organisationen und Behörden. Diese tun, was man in einer solchen Situation immer tut: Regeln, kodifizieren, organisieren, standardisieren, homogenisieren, normieren – kurz: Man kümmert sich. Zwei Ergebnisse wollen wir uns etwas näher ansehen, mit den Euro-konformen Abkürzungen ECTS und ETCS.

ECTS ist in diesem Kreis bekannt, darum gleich zu ETCS: Dies ist quasi „Bologna bei der Eisenbahn“ und steht für „European Train Control System“. ETCS soll es jedem Zug ermöglichen, ohne nationale Zusatzausrüstung auf allen europäischen Bahnnetzen verkehren zu können. Die EU bezeichnet dies als „Interoperabilität“ und entsprechend existieren „Technical Standards for Interoperability“, sogenannte TSI.

Mit der Interoperabilität ist es nun so eine Sache: Schon als kleiner Junge begegnete ich der universitären Interoperabilität in einem Schweizer Sagenbuch, nämlich in Form der „fahrenden Schüler“ des Mittelalters. Nun waren diese frühen Austauschstudierenden in der Bevölkerung nicht übermässig beliebt, wusste man doch kaum etwas über sie und in der Regel hinterliessen sie Unheil. Wir ahnen es: Wenig hilfreiche Voraussetzungen für deren Integration in die alpine Gesellschaft. Später bekam man die Sache in den Griff.

Auch bei der Interoperabilität der Bahn standen schlechte Erfahrungen am Anfang, zunächst mit der Spurweite: Wo der lange Arm der Stephenson’schen Lokomotivfabrik als Marktführerin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht hinreichte, da glaubte man bisweilen, dass sich andere Schienenabstände als die Stephenson’schen 1435 mm besser eignen würden. Nicht zu Unrecht übrigens, aber das nützte nichts: Der Bill Gates der Dampfzeit setzte seine Spur als „Normalspur“ durch und die Dissidenten hatten ihre Netze umzunageln – Interoperabilität als Resultat einer marktbeherrschenden Position also.

Bald wurde klar, dass dies nicht genügt: Als 1882 die Gotthardbahn eröffnet wurde, waren die italienischen Bahnen nicht in der Lage, in Chiasso die preussischen Güterwagen zu übernehmen. Puffer und Bremsen wollten nicht zusammenpassen. Ein internationaler Konflikt zwischen zwei Weltmächten auf neutralem Boden also. Delikat. Der schweizerische Bundesrat wurde persönlich aktiv und erwirkte bis 1887 einen Staatsvertrag über die Technische Einheit. Dieser regelte, was nötig war.

So ging das viele Jahre: Studierende kamen und gingen, Züge kamen und gingen, nicht immer ganz einfach, aber letztlich mit einem grossen Vorteil: Jedes Land bewahrte sich Spielraum zur adäquaten Gestaltung der eigenen kleinen Welt. In einer globalisierten Welt verliert letzteres (scheinbar) an Bedeutung und die verbleibenden Hindernisse gewinnen an Schärfe. Die Eliminierung von Grenzen ist angesagt, und in einer kultivierten Welt erfolgt dies mittels Standards.

Diese Standards haben wir nun, zum Beispiel dank Bologna-Reform und TSI. Nur: Was beobachten wir bei der Bahn? Statt weniger Fahrzeugausrüstungen, braucht es – als erstes - nochmals eine mehr, denn die interoperable Umrüstung des Netzes ist kostspielig und dauert Jahrzehnte. Die technische Harmonisierung des Signalsystems bedingt – dies als zweites - eine aufwändige europaweite Vereinheitlichung der Betriebsvorschriften, also der Regeln, welche den Bahnbetrieb bestimmen. Gewisse einfache, effiziente Betriebsabläufe lassen sich – als drittes - mit ETCS nicht abbilden und können daher nicht mehr genutzt werden. Die Änderung einer ETCS-Spezifikation schliesslich – als viertes - dauert Jahre, selbst wenn alle Beteiligten damit einverstanden sind.

Wie weit die Parallelen im universitären Bereich gehen, überlasse ich Ihrer Beurteilung, doch sie bestehen. Wie gesagt: Ich bin ein bekennender Europäer, ich bin sogar für die EU, aber auch als solcher regt sich in mir ein antibürokratischer Reflex. Nicht jede Inkompatibilität, nicht jeder nationale oder regionale Unterschied führt gleich zum Untergang Europas im globalen Wettstreit. Jede neue Regelung formalisiert aber unser Tun – sie setzt Grenzen!

Damit schliesse ich dieses kleine Plädoyer für mehr echte Freiheiten – Freiheiten in der Grenzüberschreitung, aber auch Freiheiten im Inneren. Neue Freiheiten sind langfristig nur dann tragfähig, wenn sie nicht in neuen Grenzen enden. Das gilt ganz allgemein.

Zum Autor

Mit Ulrich Weidmann gehört ein Vertreter des Departements Bau, Umwelt und Geomatik (D-BAUG) zum Kolumnistenteam. Er ist seit 1. Juni 2004 ordentlicher Professor für Verkehrssysteme am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT). Weidmann wurde 1963 als Bürger von Einsiedeln geboren. Nach seinem Bauingenieur-Studium an der ETH Zürich war er ab 1988 Assistent am IVT und schrieb in dieser Zeit seine Dissertation. Anschliessend fand Ulrich Weidmann den Weg in die Praxis. Von 1994 bis 2004 arbeitete er für die SBB. Er war unter anderem massgeblich beteiligt an der Neuausrichtung des Regionalverkehrs auf die Liberalisierung sowie am netzweiten Ausbau der S-Bahnen in der Schweiz. 2001 bis 2004 führte er den Geschäftsbereich Engineering und war dabei für die gesamte Bahntechnik vom Gleisbau über die Umwelttechnik bis zur Zugsicherung verantwortlich. Zudem leitete er bauherrenseitig das Projekt Führerstandssignalisierung der Lötschberg-Basislinie. Mit viel Erfahrung im Gepäck kehrte er an das IVT der ETH zurück. Sein Lehrstuhl befasst sich in der Forschung mit der Verkehrserschliessung von Agglomerationen, dem Gütertransport im Rahmen der globalen Logistik, dem stabilen Betrieb hochbelasteter Netze des Bahn- und Stadtverkehrs sowie den Prozessen des Fussgängerverkehrs. Persönliche Schwerpunktthemen sind die Ordnungspolitik und Regulierung, Unternehmensstrategien und Innovationsmanagement.