Veröffentlicht: 02.09.11
Science

ETH-Studie bestätigt: Atomausstieg unter bestimmten Bedingungen möglich

Ein Umbau des Energiesystems ohne Kernkraft bis ins Jahr 2050 ist grundsätzlich technologisch möglich und wirtschaftlich verkraftbar. Er bedingt aber eine konzertierte gesamtgesellschaftliche Anstrengung. Zu diesem Schluss kommen ETH-Forscher in einer Studie, die sie am Energiegespräch 2011 vorgestellt haben.

Roman Klingler
Die Schweiz kann sich eine Energiezukunft ohne Kernkraft aufbauen. Zu diesem Schluss kommen Energieforscher der ETH Zürich. Zum Beispiel erforscht das ETH-Labor für Energieumwandlung LEC das Potential von Windturbinen. (Bild: Scanderbeg Sauer Photography / ETH Zürich)
Die Schweiz kann sich eine Energiezukunft ohne Kernkraft aufbauen. Zu diesem Schluss kommen Energieforscher der ETH Zürich. Zum Beispiel erforscht das ETH-Labor für Energieumwandlung LEC das Potential von Windturbinen. (Bild: Scanderbeg Sauer Photography / ETH Zürich) (Grossbild)

Eine Gruppe von Forschenden des Energy Science Center (ESC) der ETH Zürich hat in den vergangenen Monaten intensiv die Möglichkeiten geprüft, ob die Schweiz ihre mittelfristige Energiezukunft, wie vom Bundesrat im Mai beschlossen, ohne Kernkraft wird gestalten können.

Ihre Antwort lautet ja. Ein schrittweiser Umbau des Energiesystems Schweiz wird zwar über die nächsten Jahre und Jahrzehnte allen gesellschaftlichen Kräften viel abverlangen. Trotzdem ist ein Ausstieg nicht nur technologisch machbar, sondern er ermöglicht langfristig ein positives Wachstum in sämtlichen Sektoren der Wirtschaft.

Die Studie untersuchte den Zeitraum bis ins Jahr 2050. Die wichtigsten Ergebnisse aus der Studie (siehe Kasten) präsentierten die Forscher anlässlich des Energiegesprächs an der ETH Zürich am 2. September 2011.

Keine Abstriche bei Klimazielen

Als unverrückbare Rahmenbedingungen gelten für die Modellrechnungen der ETH-Forscher, dass die globalen Klimaziele – eine maximale Erwärmung von zwei Grad Celsius – eingehalten werden müssen. Das bedeutet für die Schweiz, die jährlichen CO2-Emissionen pro Kopf von heute 5.2 auf weniger als 2 Tonnen im Jahr 2050 und auf 1 Tonne gegen Ende des Jahrhunderts zu senken. Diese Vorgaben bedingen hierzulande bis 2050 unter anderem CO2-freie Gebäudeheizungen, eine effiziente, teil-elektrifizierte Mobilität sowie einen minimalen CO2-Ausstoss bei der Stromerzeugung; alles Entwicklungen, die als notwendig und möglich antizipiert werden.

Wasserkraft und neue erneuerbare Energien

Eine der grössten Herausforderungen der Untersuchungen bestand darin, plausible Voraussagen zur zukünftigen Elektrizitätsversorgung zu machen, die je nach Wirtschaftswachstum, Bevölkerungsentwicklung und Effizienzsteigerungen anders ausfallen. Die Forscher haben hierzu drei Nachfrageszenarien durchgerechnet und prognostizieren für die Schweiz im Jahr 2050 eine Strom-Bruttoerzeugung zwischen 67 und 92 Terawattstunden (TWh). Das wahrscheinlichste Szenario «Mittel» geht von einem Stromjahresbedarf von rund 80 TWh aus.

Klar sei, so Konstantinos Boulouchos, koordinierender Autor der ETH-Studie und Professor für Aerothermochemie und Verbrennungssysteme, dass die begrenzt ausbaubare Wasserkraft mit knapp 50 Prozent der Gesamtstromerzeugung weiterhin einen wichtigen Sockelbeitrag leisten werde. Sollen die restlichen 40 TWh ohne Kernenergie gedeckt werden, braucht es den starken Ausbau der neuen erneuerbaren Energien, primär von Photovoltaik, gefolgt von der dezentralen Nutzung von Biomasse und schliesslich der Geothermie.

Mindestens mittelfristig sind gemäss den ETH-Forschern flexible Gaskraftwerke oder Stromimporte zur Abdeckung von Bedarfsspitzen unverzichtbar. Die absehbare technologische Entwicklung sollte es jedoch ermöglichen, ab 2020 bis 2025 Gaskombikraftwerke zu bauen, bei denen das entstehende CO2 abgetrennt und gelagert werden kann.

Höhere Effizienz für Systemkomponenten

Von zentraler Bedeutung für die erfolgreiche Umsetzung einer nachhaltigen Energieproduktion, ohne Kernkraft und mit möglichst wenig fossilen Energieträgern, ist die Energieeffizienz. «Wer dabei nur an den Stromverbrauch beim Konsumenten denkt, greift zu kurz», sagt Göran Andersson, Professor für elektrische Energieübertragung und Hochspannungstechnik und einer der Autoren der ETH-Studie.

Es gehe ebenso darum, Energieverluste beim Stromtransport (heute 7 Prozent) und bei der Speicherung zu minimieren. Am meisten Energiesparpotential orten die ETH-Forschenden im Gebäudebereich und bei der Mobilität, wobei der relative Anteil der Elektrizität an der Energieproduktion wächst und Strom zum Rückgrat des zukünftigen Energiesystems wird.

Ausbau und Optimierung von Speichern und Netzen einerseits, Fortschritte bei der Steuerung und Regelungstechnik anderseits, sollen zu einem effizienteren Umgang mit Energie beitragen. Dabei gibt es noch viel Forschungsbedarf, zum Beispiel in der Energiemetrologie. Die noch junge Fachdisziplin entwickelt Prognose-Modelle für die Wind- und Photovoltaik-Stromeinspeisung mit dem Ziel, das Stromnetz insgesamt stabiler zu machen. Im Zusammenhang mit dem Aus- und Umbau des Stromnetzes betonen die ETH-Forscher, dass auch in Zukunft die Schweiz als wichtiger Teil eines europäischen Elektrizitätsmarktes zu sehen ist.

Chance packen für Re-Industrialisierung

Welche Auswirkungen ein schrittweiser Umbau der Energieproduktion auf Wohlstand und Wachstum hat, analysierte Lucas Bretschger, Professor für Ressourcenökonomie, innerhalb der ETH-Studie. Bretschger kommt zum Schluss, dass die volkswirtschaftlichen Kosten einer langfristigen Transformation gering sind. Die wirtschaftliche Entwicklung würde gegenüber einem Wachstum mit den bisherigen Energieträgern zwar etwas verlangsamt, die ETH-Studie rechnet aber weiterhin mit positiven Wachstumsraten (zwischen 0.7 Prozent und 1.7 Prozent).

Sektoren mit einem hohen Cleantech- und Investitionsanteil, so zum Beispiel die Elektroindustrie und Teile der Maschinenindustrie, profitieren im ETH-Modell besonders stark vom Umbau des Energiesystems. Trotz zahlreicher technischer Herausforderungen sehen die Autoren in der Energiewende vor allem Chancen für eine Re-Industrialisierung der Schweiz durch die ausgelösten Investitionen und Innovationen.

Schliesslich, und damit geben die Forscher den Ball weiter an die Politik, sind Kostenwahrheit und Planungssicherheit wichtige Voraussetzungen, damit die geplante tiefgreifende Umgestaltung des Schweizer Energiesystems gelingen kann.

Livestream und Hintergründe zur ETH-Studie

Im zweiten Teil des Energiegesprächs ab 18 Uhr spricht Bundesrätin Doris Leuthard über eine nachhaltig gestaltete Energiezukunft. Das Energiegespräch kann live auf dem Web verfolgt werden.
Der Studie zugrunde liegen zahlreiche externe Quellen und ETH-internes Wissen der neun beteiligten Wissenschaftler. Mehr als 20 nationale und internationale Studien, Roadmaps, Szenarien und «Whitepapers» wurden vergleichend gesichtet, analysiert und auf Plausibilität hin überprüft. Ein Teil davon lieferte Primärdaten, die in den Berechnungsmodellen Eingang fanden. Aufgrund verschiedener Parameter (Wirtschaftswachstum, Bevölkerungsentwicklung, Effizienzfortschritte etc.) wurden verschiedene Szenarien durchgerechnet.
Der untersuchte Zeithorizont erstreckt sich dabei auf die drei Phasen bis 2010, 2020 bis 2035 und 2035 bis 2050. Hintergrundinformationen zur Studie sowie alle Vorträge des ETH-Energiegesprächs sind ab 3. September 2011 als Podcast abrufbar unter www.energiegespraech.ethz.ch.