ETH-Studie bestätigt: Atomausstieg unter bestimmten Bedingungen möglich
Ein Umbau des Energiesystems ohne Kernkraft bis ins Jahr 2050 ist grundsätzlich technologisch möglich und wirtschaftlich verkraftbar. Er bedingt aber eine konzertierte gesamtgesellschaftliche Anstrengung. Zu diesem Schluss kommen ETH-Forscher in einer Studie, die sie am Energiegespräch 2011 vorgestellt haben.
Eine
Gruppe von Forschenden des Energy Science Center (ESC) der ETH Zürich hat in
den vergangenen Monaten intensiv die Möglichkeiten geprüft, ob die Schweiz ihre
mittelfristige Energiezukunft, wie vom Bundesrat im Mai beschlossen, ohne
Kernkraft wird gestalten können.
Ihre Antwort lautet ja. Ein schrittweiser Umbau
des Energiesystems Schweiz wird zwar über die nächsten Jahre und Jahrzehnte
allen gesellschaftlichen Kräften viel abverlangen. Trotzdem ist ein Ausstieg
nicht nur technologisch machbar, sondern er ermöglicht langfristig ein
positives Wachstum in sämtlichen Sektoren der Wirtschaft.
Die Studie untersuchte den Zeitraum bis ins Jahr 2050. Die wichtigsten Ergebnisse aus der Studie (siehe Kasten) präsentierten die Forscher anlässlich des Energiegesprächs an der ETH Zürich am 2. September 2011.
Keine Abstriche bei Klimazielen
Als unverrückbare Rahmenbedingungen gelten für die Modellrechnungen der ETH-Forscher, dass die globalen Klimaziele – eine maximale Erwärmung von zwei Grad Celsius – eingehalten werden müssen. Das bedeutet für die Schweiz, die jährlichen CO2-Emissionen pro Kopf von heute 5.2 auf weniger als 2 Tonnen im Jahr 2050 und auf 1 Tonne gegen Ende des Jahrhunderts zu senken. Diese Vorgaben bedingen hierzulande bis 2050 unter anderem CO2-freie Gebäudeheizungen, eine effiziente, teil-elektrifizierte Mobilität sowie einen minimalen CO2-Ausstoss bei der Stromerzeugung; alles Entwicklungen, die als notwendig und möglich antizipiert werden.
Wasserkraft und neue erneuerbare Energien
Eine
der grössten Herausforderungen der Untersuchungen bestand darin, plausible
Voraussagen zur zukünftigen Elektrizitätsversorgung zu machen, die je nach
Wirtschaftswachstum, Bevölkerungsentwicklung und Effizienzsteigerungen anders
ausfallen. Die Forscher haben hierzu drei Nachfrageszenarien durchgerechnet und
prognostizieren für die Schweiz im Jahr 2050 eine Strom-Bruttoerzeugung zwischen
67 und 92 Terawattstunden (TWh). Das wahrscheinlichste Szenario «Mittel» geht
von einem Stromjahresbedarf von rund 80 TWh aus.
Klar sei, so Konstantinos
Boulouchos, koordinierender Autor der ETH-Studie und Professor für
Aerothermochemie und Verbrennungssysteme, dass die begrenzt ausbaubare
Wasserkraft mit knapp 50 Prozent der Gesamtstromerzeugung weiterhin einen
wichtigen Sockelbeitrag leisten werde. Sollen die restlichen 40 TWh ohne
Kernenergie gedeckt werden, braucht es den starken Ausbau der neuen
erneuerbaren Energien, primär von Photovoltaik, gefolgt von der dezentralen Nutzung
von Biomasse und schliesslich der Geothermie.
Mindestens mittelfristig sind gemäss den ETH-Forschern flexible Gaskraftwerke oder Stromimporte zur Abdeckung von Bedarfsspitzen unverzichtbar. Die absehbare technologische Entwicklung sollte es jedoch ermöglichen, ab 2020 bis 2025 Gaskombikraftwerke zu bauen, bei denen das entstehende CO2 abgetrennt und gelagert werden kann.
Höhere Effizienz für Systemkomponenten
Von
zentraler Bedeutung für die erfolgreiche Umsetzung einer nachhaltigen
Energieproduktion, ohne Kernkraft und mit möglichst wenig fossilen
Energieträgern, ist die Energieeffizienz. «Wer dabei nur an den Stromverbrauch
beim Konsumenten denkt, greift zu kurz», sagt Göran Andersson, Professor für
elektrische Energieübertragung und Hochspannungstechnik und einer der Autoren
der ETH-Studie.
Es gehe ebenso darum, Energieverluste beim Stromtransport (heute 7 Prozent) und bei der Speicherung zu minimieren. Am meisten Energiesparpotential orten die ETH-Forschenden im Gebäudebereich und bei der Mobilität, wobei der relative Anteil der Elektrizität an der Energieproduktion wächst und Strom zum Rückgrat des zukünftigen Energiesystems wird.
Ausbau und Optimierung von Speichern und Netzen einerseits, Fortschritte bei der Steuerung und Regelungstechnik anderseits, sollen zu einem effizienteren Umgang mit Energie beitragen. Dabei gibt es noch viel Forschungsbedarf, zum Beispiel in der Energiemetrologie. Die noch junge Fachdisziplin entwickelt Prognose-Modelle für die Wind- und Photovoltaik-Stromeinspeisung mit dem Ziel, das Stromnetz insgesamt stabiler zu machen. Im Zusammenhang mit dem Aus- und Umbau des Stromnetzes betonen die ETH-Forscher, dass auch in Zukunft die Schweiz als wichtiger Teil eines europäischen Elektrizitätsmarktes zu sehen ist.
Chance packen für Re-Industrialisierung
Welche Auswirkungen ein schrittweiser Umbau der Energieproduktion auf Wohlstand und Wachstum hat, analysierte Lucas Bretschger, Professor für Ressourcenökonomie, innerhalb der ETH-Studie. Bretschger kommt zum Schluss, dass die volkswirtschaftlichen Kosten einer langfristigen Transformation gering sind. Die wirtschaftliche Entwicklung würde gegenüber einem Wachstum mit den bisherigen Energieträgern zwar etwas verlangsamt, die ETH-Studie rechnet aber weiterhin mit positiven Wachstumsraten (zwischen 0.7 Prozent und 1.7 Prozent).
Sektoren
mit einem hohen Cleantech- und Investitionsanteil, so zum Beispiel die
Elektroindustrie und Teile der Maschinenindustrie, profitieren im ETH-Modell
besonders stark vom Umbau des Energiesystems. Trotz zahlreicher technischer
Herausforderungen sehen die Autoren in der Energiewende vor allem Chancen für
eine Re-Industrialisierung der Schweiz durch die ausgelösten Investitionen und
Innovationen.
Schliesslich, und damit geben die Forscher den Ball weiter an die Politik, sind Kostenwahrheit und Planungssicherheit wichtige Voraussetzungen, damit die geplante tiefgreifende Umgestaltung des Schweizer Energiesystems gelingen kann.
Livestream und Hintergründe zur ETH-Studie
Im zweiten Teil des Energiegesprächs
ab 18 Uhr spricht Bundesrätin Doris Leuthard über eine nachhaltig gestaltete
Energiezukunft. Das Energiegespräch kann
live auf dem Web verfolgt werden.
Der
Studie zugrunde liegen zahlreiche externe Quellen und ETH-internes Wissen der
neun beteiligten Wissenschaftler. Mehr als 20 nationale und internationale
Studien, Roadmaps, Szenarien und «Whitepapers» wurden vergleichend gesichtet,
analysiert und auf Plausibilität hin überprüft. Ein Teil davon lieferte
Primärdaten, die in den Berechnungsmodellen Eingang fanden. Aufgrund
verschiedener Parameter (Wirtschaftswachstum, Bevölkerungsentwicklung,
Effizienzfortschritte etc.) wurden verschiedene Szenarien durchgerechnet.
Der
untersuchte Zeithorizont erstreckt sich dabei auf die drei Phasen bis 2010, 2020 bis 2035 und 2035 bis 2050. Hintergrundinformationen
zur Studie sowie alle Vorträge des ETH-Energiegesprächs sind ab 3. September 2011 als
Podcast abrufbar unter www.energiegespraech.ethz.ch.
- 30.01.13: Atomausstieg: Alternativen?
- 19.03.12: Atomausstieg: Antwort von Professor Konstantinos Boulouchos auf den Leserkommentar vom 9.2.2012
- 09.02.12: Atomausstieg: Shifts between 2008 and 2011?
- 19.09.11: Atomausstieg: Was ist das Ziel?
- 12.09.11: Atomausstieg: Energie oder Macht?
- 08.09.11: Atomausstieg: Herbeiphantasierte Schreckensszenarien
- 08.09.11: Atomausstieg: Quasi-religiöse Denkverbote oder wissenschaftliche Debatte?
- 08.09.11: Atomausstieg: Photovoltaik-Utopia
- 06.09.11: Atomausstieg: Wunschdenken oder Wissenschaft?
- 06.09.11: Atomausstieg: Wasserkraft und erneuerbare Energien
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