Kolumne Elsbeth Stern: Gibt es sie oder nicht?

Gibt es nun eine mathematische Begabung oder gibt es sie nicht? Diese Frage bleibt in dem Aufsatz irgendwie offen. Die Tendenz scheint zu sein: Sie ist nur ein Mythos und damit nicht real existent. Man kann die Ausführungen von Frau Stern im vorletzten Satz so interpretieren, dass es sie nicht gibt, aber auch so, dass es sie doch gibt und dass man in der Wissenschaft nicht darüber reden soll.

Völlig unbestreitbar stellt Frau Stern fest, dass das logische Denkvermögen eine notwendige Voraussetzung für "mathematische Kompetenzen" ist. Das logische Denkvermögen wiederum (im Aufsatz das "schlussfolgernde Denken") hängt eng mit allgemeiner Intelligenz zusammen, und diese ist genetisch bedingt, jedenfalls zu einem großen Teil. Damit sind mittelbar auch die "mathematischen Kompetenzen" von genetischen Faktoren abhängig, jedenfalls zu einem gewissen Teil. Diese Faktoren könnte man doch "mathematische Begabung" nennen, vielleicht zusammen mit einem guten Gedächtnis und einem ausgeprägten Gefühl für Zahlen und Größen. Der Volksmund scheint das jedenfalls so anzunehmen.

Andererseits schreibt Frau Stern: "Aber eine überdurchschnittlich oder gar sehr hohe Intelligenz kann nur bei gutem, verständnisorientiertem Unterricht für die Entwicklung mathematischer Kompetenzen genutzt werden." Das scheint mir widersprüchlich zu sein. In der Vergangenheit war der Mathematikunterricht meist nicht gut (sonst bräuchten wir ja nicht die vielen Reformen zu den "vernetzten Leitideen" und der "Kompetenzorientiertheit" sowie der "Verständnisorientiertheit"), dennoch haben viele "Opfer" dieses nicht guten bzw. nicht verständnisorientierten Unterrichts eine ganze Menge von Mathematik verstanden, vielleicht die "Begabten" ? Unbestreitbar ist natürlich auch, dass ein besserer Unterricht zu besseren Ergebnissen führen wird. Aber die reale Existenz von mathematischer Begabung ist in dem Aufsatz - entgegen dem Titel - nicht widerlegt worden.Vielleicht gibt es ja weitere Ergebnisse der empirischen Psychologie, die diese These stützen ? Dann sollten sie genannt werden.

Wolfgang Kühnel - 06.10.12

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