Von der Zweisprachigkeit profitieren
Zweisprachige Kinder, die schlecht Deutsch sprechen, werden in der Regel mit Leistungs- und Sprachdefiziten in Verbindung gebracht. Eine neue Studie zeigt auf, dass die Zweisprachigkeit – auch wenn sie schlecht ausgebildet ist – mit einem beachtlichen und überraschenden Vorteil verbunden ist, der zum Beispiel im Mathematik-Unterricht sichtbar wird.
An der soeben publizierten Studie beteiligte sich Henrik Saalbach, Oberassistent am Institut für Lern- und Lehrforschung der ETH Zürich. Die Studie räumt teilweise mit der Vorstellung auf, dass zweisprachige Kinder mit teils mangelhaften Deutschkenntnissen aus Einwandererfamilien in der Schule zwangsläufig einen schweren Stand haben. Sie zeigt, dass diese Kinder gerade in Mathematik einen Vorteil haben, da sie dank der Zweisprachigkeit unwichtige von wichtigen Informationen besser «herausfiltern» können. Im Interview erklärt Henrik Saalbach, wie dieser kleine aber feine Unterschied auch genutzt werden kann.
Zahlreiche Studien
zeigen: Kinder mit Migrationshintergrund, welche die Unterrichtssprache
schlecht beherrschen, haben mehr Probleme in der Schule, sowohl in sprachlichen
Fächern, als auch in der Mathematik. Stimmt das?
Henrik Saalbach: Ja,
denn auch in der Mathematik spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Die
Schülerinnen und Schüler müssen einerseits die Anleitungen im Unterricht
verstehen, andererseits werden mathematische Funktionen durch bestimmte
grammatikalische Strukturen ausgedrückt, die sie richtig interpretieren müssen.
Wörter wie «mehr als» oder «weniger als» sind entscheidend, um aus einem Text
ein mathematisches Problem zu extrahieren.
Dass die
Sprachkompetenz für das Lösen einer Textaufgabe wichtig ist, leuchtet ein. Sind
aber nicht arithmetische Fähigkeiten eines Kindes viel bedeutender?
Die Studie, die ich in Zusammenarbeit mit der Universität
Frankfurt durchgeführt habe, hat diesbezüglich ein sehr wichtiges Ergebnis
hervorgebracht: Um Textaufgaben zu lösen, ist die Sprachkompetenz ebenso
wichtig wie die arithmetische Kompetenz eines Kindes. Hingegen spielen
Intelligenz oder der sozioökonomische Status eine untergeordnete Rolle.
Demnach müssten die
Kinder, die von Haus aus die Unterrichtssprache sprechen, Textaufgaben besser lösen
können als die zweisprachigen Kinder mit Migrationshintergrund?
Ja, bei ganz normalen Textaufgaben, wie sie oft in
Schulbüchern zu finden sind, schon. Dort beeinflusste die Sprachkompetenz die
mathematische Problemstellung deutlich.
Und dennoch hat
Ihre Studie ein entscheidendes und überraschendes Resultat hervorgebracht: Bei einem
gewissen Typ von mathematischen Textaufgaben hat die Zweisprachigkeit von Kindern
mit Migrationshintergrund einen klaren Vorteil. Welchen?
Dies ist ein sehr wichtiges und neues Ergebnis. Wir
konnten zeigen, dass es den Kindern mit Migrationshintergrund leichter fällt, belanglose
oder überflüssige Information in einer mathematischen Textaufgabe zu
ignorieren. Beispielsweise wird in einer solchen Aufgabe der Preis einer Murmel
genannt, obwohl dieser für die Lösung nicht relevant ist. Die zweisprachigen
Kinder mit Migrationshintergrund können sich besser auf die relevante
Information konzentrieren, als ihre einsprachigen Klassenkameraden.
Wenn Sie also eine
Textaufgabe mit irrelevanten Informationen bestückten...
... dann schmolz der Leistungsunterschied zwischen den
einsprachigen und den zweisprachigen Kindern dahin: Die Zweisprachigen mit
schlechten Deutschkenntnissen lösten diese Aufgaben gleich gut wie ihre
deutschsprachigen Klassenkollegen. Man kann es auch so ausdrücken: Die
«kognitiven Kosten», die aufgrund der irrelevanten Informationen entstehen,
sind bei den zweisprachigen Kindern geringer.
Mathematische Aufgaben im Alltag weisen eine Menge überflüssiger Informationen auf, die man unterdrücken muss. Auch mit fortschreitendem Schulalter werden Kinder vermehrt an solche Aufgaben herangeführt. Könnten sich die Vorteile der Zweisprachigkeit auch hier auswirken?
Hier steht die Forschung am Anfang, insbesondere im Hinblick auf die Zielgruppe der Kinder mit Migrationshintergrund. Grundsätzlich lässt sich aber nicht ausschliessen, dass sie auch hier Vorteile haben könnten.
Woher kommt denn
die Fähigkeit von zweisprachigen Kindern, irrelevante Informationen besser herausfiltern
zu können?
Die Forschung nennt diese Fähigkeit
«Aufmerksamkeitskontrolle». Ein Kind, das oft von der einen in die andere
Sprache wechselt, muss permanent eine Sprache unterdrücken. Diesen Mechanismus betrachten
Wissenschaftler als Kern der zuvor geschilderten Fähigkeit. Wie häufig Kinder
die Sprache wechseln, bestimmt also mit, wie gut ihre Aufmerksamkeitskontrolle
ausgebildet ist.
Profitieren «starke»
und «schwache» zweisprachige Kinder gleichermassen von diesem Effekt?
Nein, da gibt es Unterschiede: Je höher die
Sprachkompetenz, desto grösser der Effekt: Die starken zweisprachigen Kinder
schneiden in Aufgaben, die eine Aufmerksamkeitskontrolle erfordern, noch besser
ab, als Kinder mit eher schwachen Sprachkompetenzen.
Wurden solche Ergebnisse
schon in anderen Gebieten gefunden?
Ähnliche Untersuchungen, die Vorteile der
Aufmerksamkeitskontrolle bei Zweisprachigkeit aufzeigten, wurden bislang nur
mit Zweisprachigen, die beide Sprachen nahezu perfekt beherrschen,
durchgeführt. Dass auch Kinder, die mindestens eine der beiden Sprachen
schlecht sprechen, von der erhöhten Aufmerksamkeitskontrolle profitieren – und
dies in einem schulischen Kontext – können wir nun zum ersten Mal nachweisen.
Wie lassen sich
Ihre Ergebnisse auf die Praxis übertragen? Die Unterrichtsprache zu
beherrschen, scheint nach wie vor ein entscheidender Faktor für den Schulerfolg
zu sein – insbesondere auch in der Mathematik.
Es steht ausser Frage, dass die Kompetenz in der
Unterrichtssprache bei Kindern mit Migrationshintergrund gefördert werden muss.
Diese Förderung ist aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Sprache und
Mathematik zum Beispiel auch als Teil des Mathematikunterrichts denkbar. Dort
könnte man Sprachförderung einbauen.
Und was ist von
der Vorstellung zu halten, dass zweisprachige Kinder mit Migrationshintergrund
vor allem mit Nachteilen zu kämpfen haben?
Darum geht es hier. Zweisprachigkeit ist auch eine wertvolle
Ressource, die gefördert werden sollte! Damit können die Kinder anderes
kompensieren. Muttersprachliche Kompetenzen sollten – auch im häuslichen Umfeld
– weiterentwickelt werden. Die Zweisprachigkeit der Kinder mit
Immigrationshintergrund ist also sicherlich kein Makel.
Literaturhinweis
Kempert S, Saalbach H & Hardy I. Cognitive Benefits and Costs of Bilingualism in Elementary School Students: The Case of Mathematical Word Problems. Journal of Educational Psychology. Advance online publication, June 20, 2011, doi: 10.1037/a0023619
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