Veröffentlicht: 28.06.11
Science

Gier ist gut

In einem neuen Modell lassen Carlos Roca und Dirk Helbing Individuen einer Gesellschaft aufeinander treffen, die «gierig» und mobil sind. Gier fördert erstaunlicherweise den sozialen Zusammenhalt, wenn sie nicht zu gross ist, sonst aber bricht die Gesellschaft zusammen.

Peter Rüegg
Hat überbordende Gier das Finanzsystem kollabieren lassen? Gut möglich, sagt ein neues Modell über Kooperation von mobilen gierigen Individuen (Bild: istockphoto)
Hat überbordende Gier das Finanzsystem kollabieren lassen? Gut möglich, sagt ein neues Modell über Kooperation von mobilen gierigen Individuen (Bild: istockphoto) (Grossbild)

Erfolg und Wohlbefinden von Menschen in modernen Gesellschaften hängen stark von sozialer Kooperation und sozialen Bindungen ab. Individuelles Eigeninteresse stellt aber Kooperation und soziale Beziehungen immer wieder in Frage. Die Versuchung, die Vorzüge der Gesellschaft zu nutzen, aber seinen eigenen Beitrag zu minimieren, mündet in einem sozialen Dilemma. So können Sozial- oder Wirtschaftssysteme plötzlich ins Wanken geraten oder sogar zusammenbrechen. In der Geschichte der Menschheit finden sich genügend Beispiele von Hochkulturen, die auf rätselhafte Weise vom Erdboden verschwunden sind.

Sozialen Zusammenhalt modelliert

Etliche Soziologen haben zu erklären versucht, weshalb sich derartige Umbrüche immer wieder ereignen, obwohl die Menschen die Möglichkeit gehabt hätten, aus der Vergangenheit zu lernen. Der ETH-Soziologieprofessor Dirk Helbing und sein Postdoktorand Carlos P. Roca haben nun ein neues Modell entworfen, um besser zu verstehen, wie sozialer Zusammenhalt entsteht und vergeht. Sie haben simuliert, wie erfolgsorientierte, mobile Individuen untereinander öffentliche Güter schaffen – die Grundlage jedes Gemeinwesens.

Ihre Annahme: Die Befriedigung individueller Bedürfnisse bestimmt das Verhalten. Die Forscher verallgemeinerten ein Modell, gemäss dem Zufriedene ihr Verhalten beibehalten, Unzufriedene Verhalten oder Lebensumfeld oder gar beides ändern. Wer von seinen sozialen Wechselwirkungen enttäuscht ist, wird wegziehen und sein Glück woanders suchen. Das Niveau der persönlichen Erwartungen im Vergleich zu den erinnerten grössten und geringsten Erfolgen bestimmt dabei das Niveau der «Gier».

Moderate Gier ist Kitt

Mit ihrem Modell können Roca und Helbing aufzeigen, dass eine moderat ausgeprägte Gier der Leim ist, der unsere Gesellschaft zusammenhält: Ein gewisses Mass an Gier sorgt für soziale Kooperation, obwohl es Anreize gibt, sich die eigenen Beiträge zum Gemeinwesen zu ersparen und stattdessen die Fleissigen auszunutzen. Der Trick ist, dass sich kooperative Individuen zusammenschliessen und funktionierende Gemeinschaften bilden, die gemeinsam Werte schaffen. Wer nicht kooperiert, endet am Rand dieser Gemeinschaften, denn andere machen einen Bogen um sie. Interessanterweise entsteht soziale Kooperation in diesem Modell spontan aus dem Bestreben aller, das persönliche Glück zu suchen.

Nimmt die Gier überhand, bricht die Kooperation zusammen. Die Individuen erwarten zu viel Ertrag für ihren Einsatz und sind ständig auf der Suche nach grösseren Erfolgen. Der Zusammenhalt der Gesellschaft geht verloren - und damit die Grundlage kooperativer Gemeinschaften. «Enttäuschte, überhöhte Erwartungen führen letztlich dazu, dass eine Gesellschaft zusammenbricht», sagt Roca, «man kann nicht jeden Tag den besten Tag seines Lebens haben.» Erzielen Individuen mit hohen Erwartungen einen noch grösseren Gewinn, werden sie allmählich immer gieriger. Sie zufrieden zu stellen, wird immer schwieriger. Schliesslich bleibt ihnen nur die Möglichkeit, andere auszunutzen oder eine bessere Umgebung zu suchen. Dadurch kann die Gesellschaft früher oder später an den Punkt gelangen, an dem der soziale Zusammenhalt auseinanderbricht. Helbing hält es für möglich, dass dieser Mechanismus letztlich auch für die Finanzkrise mitverantwortlich war. Den Punkt zu bestimmen, an dem das System kippt, hält er aber für schwierig. Dafür fehlen derzeit die Daten.

Umgekehrt funktioniert eine Gesellschaft ebenso wenig, wenn es keine Gier gibt. «Wenn die Individuen zu wenig ambitioniert sind, sind sie mit allem zufrieden, und es fehlt der Antrieb, kooperative Gemeinschaften zu bilden, um zu besseren Ergebnissen zu gelangen», erläutert der Soziologieprofessor.

Nur wenig Wissen nötig

Das Modell gewährt dennoch neue und überraschende Einsichten in das bisher schwierig zu erfassende Problem, wie kooperatives Verhalten unter selbstsüchtigen Individuen überhaupt entstehen kann und erhalten bleibt. Es berücksichtigt insbesondere die Mobilität der Individuen. «Frühere Modelle haben dies ungenügend beachtet. Wir zeigen, dass die Mobilität bei der Entstehung von Kooperation eine viel grössere Rolle spielt als bisher angenommen», sagt Helbing.

Verglichen mit anderen Modellen zeigt der neue Ansatz, dass Kooperation in Dilemma-Situationen auch bei sehr geringen Informationen über die soziale Umwelt entstehen kann. Die Individuen kennen hier nur den Erfolg, den ihr eigenes Verhalten schafft. Sie erinnern sich an die grössten und geringsten Erfolge, vergessen diese aber im Laufe der Zeit. Das genaue Verhalten der anderen wird als unbekannt angenommen und wird daher auch nicht nachgeahmt. Die Individuen spekulieren auch nicht über zukünftige Erfolge. Das neue Modell erfordert weder die Bestrafung von abweichendem Verhalten noch Reputationsmechanismen, damit soziale Kooperation entstehen kann.

Erklärung für eine der grossen Fragen

Im Jubiläumsjahr 2005 publizierte die Fachzeitschrift «Science» 25 grundlegende wissenschaftliche Fragen, darunter diejenige, wie soziale Kooperation unter Egoisten entsteht. Das Modell von Helbing und Roca leistet einen aktuellen, wichtigen Beitrag zum Verständnis dieser Frage. Gleichzeitig ist er ein weiteres Puzzleteil zum besseren Verständnis der Kräfte, die unsere Gesellschaft zusammenhalten – ein Thema, mit dem sich das FuturICT Flagship-Projekt im grösseren Massstab und mit wesentlich detaillierteren Modellen befassen wird.

Literaturhinweis

Roca CP & Helbing D. The emergence of social cohesion in a model society of greedy, mobile individuals. PNAS, Published online before print June 27, 2011, doi: 10.1073/pnas.1101044108

 
Leserkommentare: