«Architektur muss wieder ehrlicher und direkter werden»
Das Departement Architektur der ETH Zürich denkt nachhaltige Architektur neu: Nicht mehr der Energieverbrauch soll zukünftig im Zentrum der Anstrengungen stehen, sondern die Kohlendioxid-Emission beim Bau und Betrieb. Marc Angélil erklärt im Interview, weshalb die Zeit reif ist für einen Paradigmenwechsel in der Architektur.
Herr Angélil, Ihr Departement stellt am Freitag Fachleuten aus Bau und
Architektur die Grundsätze der «Towards Zero-Emission Architecture» vor. Geschlossen
fordern die Professoren damit eine Abkehr vom Fokus auf Energieverbrauch und
dicke Dämmungen, wie sie Standards wie «Minergie» propagieren. Wieso sollen die
Emissionen zur neuen Zielgrösse in der Architektur werden?
Der Gebäudepark verursacht heute
rund die Hälfte des landesweiten Gesamtenergieaufwandes und der CO2-Emissionen.
Wir richten uns mit «Towards Zero-Emission Architecture» nach dem Ideal der
1-Tonne-CO2-Gesellschaft, so
wie sie in der Energiestrategie der ETH Zürich verankert ist. Jeder Mensch soll
seine CO2-Emissionen pro
Jahr und Kopf auf eine Tonne reduzieren; wie viel Energie er dabei verbraucht,
ist nicht wesentlich. Es bringt nichts, ad absurdum Energie zu sparen, ohne dabei die Gesamtheit der Emissionen zu berücksichtigen.
Zur Umsetzung der Ziele der 1-Tonnen-CO2-Gesellschaft braucht es
Beiträge von allen Seiten, auch von der Architektur.
Viele Architekten haben sich in der Vergangenheit über das stilistische
Korsett von Nachhaltigkeitsstandards beklagt. Ist ihr Vorstoss in erster Linie
ein Befreiungsschlag für mehr gestalterische Freiheit?
Natürlich auch, denn wir wehren uns
damit gegen einseitige Normen. Wenn man alle Bauten mit einer 50-Zentimeter dicken
Aussenhülle verpacken muss, ist der Architekt in einer Zwangsjacke. Mit
dünneren Wänden, aufgrund von intelligenteren Wärmeflüssen, erhalten wir wieder
grössere Freiheiten in der Konstruktion.
Und wie sieht
emissionsarmes Bauen konkret aus?
Mit
«Towards Zero-Emission» benötigen wir auch weniger Material. Ich gebe ihnen ein
Beispiel: In Esslingen plane ich zurzeit den Bau von 60 Wohnungen. Mit einem
zentralen Schwarm von Erdsonden in 300 Meter Tiefe wird die ganze Siedlung
klimatisiert. Im Sommer speichern wir überschüssige Wärme im Boden, im Winter
brauchen wir diese wieder zum Heizen. Damit wird das Gebäude einen Überschuss
an Wärme produzieren und wir brauchen keine dicken Isolationen mehr. Wir können
die Wände also von 50 Zentimeter Breite, wie beim «Minergie»-Standard üblich,
auf 30 Zentimeter reduzieren. Über die ganze Siedlung hinweg sparen wir dadurch
340 Quadratmeter Fläche und 1000 Kubikmeter Material. Schon beim Bau fällt
damit weniger graue Energie durch Transport und Materialproduktion an.
Wie beeinflusst der
sparsamere Materialeinsatz den Entwurf?
Optimierte
Materialflüsse bedingen eine andere Haltung, eine neue Form der Ästhetik und
ein veränderter Umgang mit Materialien. Wir gehen zurück zum Rohbau;
Architektur muss wieder ehrlicher und direkter werden. Darunter verstehe ich
auch den Verzicht auf mehrere Schichten; wir brauchen nicht überall makellose Verschalungen
und Abdeckungen. Wichtiger wäre es, jedes Bauteil mehrfach zu nutzen. Eine
Betonplatte kann auch ein Wärmespeicher sein und dabei gleichzeitig
feuertechnische und akustische Aufgaben im Gebäude übernehmen.
Neben den reduzierten
Materialflüssen beim Herstellungs- und Entsorgungsprozess sieht die Strategie
einen emissionsfreien Betrieb des Gebäudes vor. Woher soll die Energie dafür
kommen?
Es
gibt mehr als genug emissionsfreie Energie, wir müssen diese nur intelligent
nutzen. Dafür müssen wir den energetischen Kontext eines Baus richtig erfassen
und alle emissionsfreien Quellen
anzapfen. Menschliche Exkremente zum Beispiel sind circa 37°C warm; zum
Heizen brauchen wir aber nur 18°C. Es wäre also sinnvoll, diese Abwärme zu
nutzen – erste Testanlagen für die Wärmerückgewinnung sind bereits in Betrieb.
Das gleiche gilt auch für die Wärme, die unser Körper andauernd abstrahlt.
Alleine damit heizt man
aber noch kein zehngeschossiges Geschäftshaus.
Nein,
aber auch die Sonnenenergie ist im Überfluss vorhanden und um diese zu nutzen
und zu speichern, stehen heute viel bessere Technologien bereit als noch vor 15
Jahren. Gleichzeitig braucht es eine «Partitur der technischen Systeme». Wärmepumpen,
Lüftungen und Heizungen müssen besser vernetzt werden und Sensoren, verteilt im
ganzen Haus, müssen dafür sorgen, dass die Geräte nur dann laufen, wenn sie
wirklich benötigt werden. Anstatt riesiger Lüftungsanlagen im Keller, haben wir
heute kleine dezentralisierte Systeme. Die Lüftung in einem Raum geht dann zum
Beispiel erst an, wenn ein Kohlendioxidsensor registriert, dass jemand eintritt.
Das tönt nach sehr viel
High Tech.
Nein,
High Tech kommt nur dort zum Einsatz, wo es Sinn macht. Aber lieber ein
einfacher Sonnenschutz an der Fassade als ein aufwendiges Regulierungssystem
drinnen. Und um Wärme über Erdsonden im Boden zu speichern und diese anschliessend
über Wärmepumpen wieder zu nutzen, braucht es vor allem eine gute Vernetzung,
aber keine High-Tech-Anlage.
Technische
Regulierungssysteme und Wärmepumpen brauchen zusätzlichen Strom. Obwohl
Vertreter aus Politik und Wirtschaft vor einer Stromlücke warnen, klammert die Strategie
neben fossilen Energieträgern auch die Kernenergie explizit aus. Weshalb?
Das
Abfallproblem bei der Kernspaltung ist nach wie vor nicht gelöst. Abfall ist
eine Emission. Atomare Energie ist entsprechend nicht mit einer emissionsfreien
Architektur vereinbar.
Und Sie sehen keinen
Widerspruch darin, dass an der ETH auch an Kernenergie geforscht wird?
Nein,
an unserer Hochschule haben unterschiedliche Meinungen Platz.
Gehen die Forderungen
der «Towards Zero-Emission Architecture» nicht weit über die Kompetenzen eines
Architekten hinaus?
An
der ETH denken wir Architektur immer auch in einem städtebaulichen Kontext. Dabei
spielen Machtverhältnisse, Interessenskonflikte, Geldflüsse und die Partizipation
der Bewohner eine entscheidende Rolle. Insofern ist jedes neue Gebäude auch ein
politisches Statement. «Towards Zero-Emission Architecture» spielt deshalb klar
auch ins Politische und Ökonomische hinein.
Inwiefern bettet sich Ihr
Vorstoss in einen grösseren internationalen Trend ein?
Unser
Ansatz ist einzigartig und «very swiss». Die Architektur an der ETH hat anders
als in vielen Hochschulen in Amerika den Bezug zur Praxis nie verloren. Forschung
und Lehre orientieren sich bei uns stark
an der Praxis. Zudem steht an einer technischen Hochschule wie der ETH sehr
viel technisches Know-how im eigenen Haus bereit, das für Nachhaltigkeit im Bau
notwendig ist. Die Techniker arbeiten mit den Architekten und Städtebauern eng
zusammen. Hinzu kommt, dass wir in der Schweiz in der Diskussion rund um
Nachhaltigkeit schon viel weiter sind als andernorts.
Insofern stellt sich die Frage: Selbst wenn Politiker und Architekten in
der Schweiz die «Towards Zero-Emission Architecture» unterstützen
würden, wäre das global
betrachtet nicht nur ein Tropfen auf den heissen Stein?
Wir entlassen jährlich rund 250
Studenten mit einer Ausbildung, in der Ölheizungen gar nicht mehr vorkommen.
Viele davon gehen später ins Ausland, tragen unsere Ideen dort in die Praxis
und betten sie in neue Kontexte ein. So entsteht bottom-up langfristig auch in
Lateinamerika oder Afrika ein Verständnis für nachhaltiges Bauen.
Towards Zero-Emission Architecture
Die Professoren des Departements Architektur fordern in einem Positionspapier einen Paradigmenwechsel in der Architektur: Weg vom Energiesparen und hin zur Emissionsfreiheit. Die Null-Emissions-Architektur bezieht sich auf den gesamten Lebenszyklus der Gebäude – von der Erstellung über den Betrieb bis zur Entsorgung. Die Grundsätze lassen sich auf neue Gebäude ebenso anwenden wie auf die Sanierung des bestehenden Gebäudeparks. Wichtige Komponenten sind dabei ein Wärmespeichersystem in der Form von Erdsonden, Solartechnologie und Wärmepumpen. Gegenüber herkömmlichen Bauweisen sind durch einen verminderten Materialeinsatz und die Nutzung von selbstproduzierter Wärme wesentliche Einsparungen möglich. Der Campus «Science City» wird grösstenteils nach den Vorgaben der «Towards Zero-Emission Architecture» gebaut und saniert. Nach denselben Grundsätzen sind ein neues Gebäude für das Institut für Technologie auf dem Campus «Science City» und ein Neubau im «Future Cities Laboratory» in Singapur geplant.
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