Veröffentlicht: 27.02.09
Spieltheorie

Soziales Verhalten durch Mobilität

Auch in einer von Egoismus geprägten Welt kann kooperatives Verhalten unter Individuen entstehen. Der Schlüssel zu solchem Verhalten liegt in der Möglichkeit von Mobilität. Zu dieser Erkenntnis gelangen ETH-Forscher durch die spieltheoretische Simulation sozialer Verhaltensweisen.

MM
Im Gefangenendilemma werden Häftlinge frühzeitig entlassen, wenn sie gegenseitig kooperieren. (Bild: Photoportunity/Flickr)
Im Gefangenendilemma werden Häftlinge frühzeitig entlassen, wenn sie gegenseitig kooperieren. (Bild: Photoportunity/Flickr) (Grossbild)

Unsere komplexen Gesellschaften funktionieren nur, wenn sich ihre Mitglieder bis zu einem gewissen Grad kooperativ verhalten. Das gilt insbesondere für den Umgang mit unserer Umwelt und noch mehr für solidarische Systeme wie die Sozialversicherungen. Wie kann man ihr Funktionieren sichern, selbst wenn jeder zuerst an sich selbst denkt? Das ist die zentrale Frage, die sich Wissenschaft und Politik gleichermassen stellen. In der politischen Realität versucht man oft, die egoistische Ausbeutung von Kollektivgütern durch verstärkte Kontrolle und Überwachung zu verhindern. Neuste Forschungsergebnisse von Sozialwissenschaftern der ETH Zürich weisen jedoch darauf hin, dass es auch andere Lösungsansätze gibt, um kooperatives Verhalten zu fördern und den darauf aufbauenden Sozialsystemen Stabilität zu verleihen.

Wie Kooperation mehrheitsfähig machen?

Die Computersimulationen der ETH-Forscher um Dirk Helbing, Professor für Soziologie, arbeiten mit dem in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften oft verwendeten Modell des Gefangenendilemmas (siehe Kasten). Das Modell beschreibt Situationen, in denen sich Individuen normalerweise nicht kooperativ verhalten, obwohl dieses Verhalten langfristig für alle Beteiligten am besten wäre.

Das Computermodell der ETH-Forscher besteht aus Individuen, die auf einem bestimmten Territorium leben und in der sozialen Interaktion mit ihren Nachbarn immer abwägen, welches Verhalten ihnen selber zum eigenen Vorteil gereichen könnte. Entsprechend passen sie ihr Verhalten ständig an ihre Umgebung an. Die Herausforderung besteht darin, ein System, in dem zunächst niemand kooperiert, in ein solches zu überführen, in dem sich kooperatives Verhalten mehrheitlich durchsetzt.

Erfolgsorientierte Mobilität

Der aus anderen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen bekannte Mechanismus der Nachahmung (Imitation) alleine konnte der Kooperation nicht zum Durchbruch verhelfen – im Gegenteil. Wenn es am Anfang noch kooperative Individuen gab, so versuchten sich am Ende alle gegenseitig auszutricksen. Ebenso wenig konnte man dies mit einem zweiten Mechanismus erreichen: der erfolgsorientierten Mobilität. Darunter verstehen die Forscher den Versuch der Individuen, sich räumlich oder sozial zu verbessern, indem sie zum Beispiel in eine angenehmere Nachbarschaft ziehen oder sich ein besseres Arbeitsumfeld suchen.

«Das wirklich Erstaunliche an unseren Simulationen ist, dass sich das Blatt durch eine Kombination beider Mechanismen vollständig ändert», so Dirk Helbing. Mit anderen Worten: Wenn die Individuen erfolgsversprechende Strategien ihrer Interaktionspartner imitieren und sich gleichzeitig ihr soziales Umfeld aussuchen können, setzt sich kooperatives Verhalten als dominantes Muster durch (siehe dazu auch das Simulationsvideo).

Was heisst das nun in der Praxis? Helbing zufolge zeigen die neuesten Forschungsresultate, dass räumliche und soziale Mobilität wichtige Voraussetzungen für die Entstehung und Verbreitung sozialen Verhaltens sind, weil Individuen ein kooperatives Umfeld bevorzugen, wenn sie die Wahl haben. Dies wiederum ist entscheidend für das Funktionieren von Solidargemeinschaften.

Das Gefangenendilemma (Prisoner's Dilemma)

Das so genannte Gefangenendilemma ist ein Modell der Spieltheorie, das in den 50er Jahren entwickelt wurde. Seinen Namen verdankt es einem Gedankenexperiment mit zwei Häftlingen (Komplizen), denen zwei Handlungsoptionen offenstehen:
1) A belastet in seinen Aussagen B, dieser schweigt jedoch. In diesem Fall wird A freigelassen, weil ihm nichts nachgewiesen werden kann. B dagegen wird zu 10 Jahren Haft verurteilt. 2) Wenn jeder Häftling gegen den andern aussagt, müssen A und B mit je 5 Jahren Haft rechnen. 3) Verhalten sich A und B wechselseitig kooperativ, indem sie nicht aussagen, müssen sie lediglich mit einer einjährigen Haftstrafe rechnen, wegen kleinerer Delikte, die man ihnen nachweisen kann.
Beide Häftlinge werden normalerweise die zweite Option wählen und sich gegenseitig belasten, obwohl sie bei einem kooperativen Verhalten mit einem deutlich tieferen Strafmass rechnen können. Dieses Paradigma ist insbesondere Grundlage der Kronzeugenregelung.
Im allgemeinen Zusammenhang beschreibt das Gefangenendilemma Situationen, in denen zwei Individuen miteinander interagieren und die Wahl haben, zu kooperieren oder nicht. Grundsätzlich ist es besser, wenn beide kooperieren, als wenn es beide nicht tun, aber noch besser fährt man, wenn der andere kooperiert, aber man selber nicht. In diesem Falle steht der andere am schlechtesten da. Kooperation ist also risikoreich, während man gleichzeitig der Versuchung ausgesetzt ist, nicht zu kooperieren.

Literaturhinweis

The outbreak of cooperation among success-driven individuals under noisy conditions. Dirk Helbing and Wenjian Yu. Proceedings of the National Academy of Sciences, Vol. 106, No. 8, Feb. 23, 2009. doi:10.1073/pnas.0811503106
Die Printausgabe von PNAS vom 10. März berichtet in seiner Titelgeschichte ebenfalls über den Beitrag.