Veröffentlicht: 04.02.09
Modell Immunsystem und Pathogene

Berechenbare Krisen

Mit einem neuen Modell beschreiben Forscher der Wirkungsweise des Immunsystems. Dieses macht einen ungesund klingenden Vorschlag: Eine gesunde Balance kann nur aufrecht erhalten werden, wenn genügend Kontakt mit Krankheitskeimen gegeben ist.

Peter Rüegg
Eine Computersimulation des Immunsystems zeigt, dass ein konstanter Zufluss von Krankheitserregern - im Bild Salmonellen - die Gesundheit des Organismus' stützen kann. (Bild: PHIL)
Eine Computersimulation des Immunsystems zeigt, dass ein konstanter Zufluss von Krankheitserregern - im Bild Salmonellen - die Gesundheit des Organismus' stützen kann. (Bild: PHIL)

Pendlerzüge sind derzeit fahrende Krankheitsherde: Viele Fahrgäste husten, niesen, schneuzen. Man fühlt sich schon krank vom blossen Zuhören. Und fängt man schliesslich eine Grippe ein, liegt der Schluss nahe, dass das Bombardement mit Keimen schuld daran ist - und dass man in einer keimfreien Umgebung wohl gesund geblieben wäre.

Diesem Volksglauben widerspricht ein internationales und interdisziplinäres Forschungsteam unter der Leitung von ETH-Professor Didier Sornette. In einer neuen Publikation stellen sie eine Computersimulation vor, die das Immunsystem beschreibt.

So schlägt dieses Modell vor, dass das Immunsystem genau jenen konstanten genügend grossen Zustrom von Krankheitserregern benötigt, um das Gleichgewicht zwischen Attacken auf die Gesundheit und Abwehr des Immunsystems aufrecht zu erhalten. Gesundheit bedeutet demnach nicht, ohne Keime zu leben, sondern mit ihnen in Kontakt zu sein. «Mit diesem Modell können wir zeigen, dass der Zufluss von Keimen in einigen Fällen sogar zunehmen kann, damit der Organismus gesund bleiben kann», erklärt Sornette.

Exogener Schock zu stark

Diese Erkenntnisse seien zwar nicht neu, räumt der Professor ein. Das würden auch Studien mit realen Begebenheiten beweisen. Doch noch immer halte sich in vielen Köpfen der Glaube, dass eine sterile Umgebung die Menschen gesund erhalte. Allerdings warnt Sornette davor, den Schluss zu ziehen, dass hoch ansteckende oder gefährliche Krankheiten gesund sind. «Wenn man einen Westeuropäer nach Afrika mitten in eine Cholera-Epidemie verfrachtet, entspricht dies einem exogenen Schock, der sein System aus der Bahn wirft.»

Für Didier Sornette steht denn auch nicht der Gewinn von biologischen Erkenntnissen im Vordergrund seiner Forschungsarbeit. Wichtig sei gewesen aufzuzeigen, dass man mit ziemlich einfacher Mathematik ein kompliziertes System wie den menschlichen Organismus und das Immunsystem, das aus unzähligen biologischen und chemischen Komponenten besteht, angemessen abbilden und sinnvolle Resultate erzielen kann.

Grobe Maschen statt feines Netz

Das Modell ist im Gegensatz zu einem systembiologischen Ansatz grobmaschig und besteht aus Sätzen von mathematischen Gleichungen, welche die Dynamik von nur fünf Kompartimenten des Systems beschreiben: gesunde Zellen, infizierte Zellen, Zellen für die erworbene sowie angeborene Immunität und Pathogene. Dazu untersuchten die Forscher vier verschiedene Bedingungen, die eine Kombination daraus sind, ob infizierte Zellen sich vermehren oder nicht und ob eine Autoimmunerkrankung vorliegt oder nicht. Daraus lassen sich 16 verschiedene Zustände errechnen, die sich teilweise überlappen. Sieben davon sind jedoch eindeutig: starkes gesundes Immunsystem, gesunder Organismus mit schwindenden Immunzellen, chronische Infektion, starke Infektion, Krebs und Tod. Das Modell bietet einen Rahmen um die Verwandtschaften und Übergänge zwischen den sieben Stadien zu beschreiben.

Krise vom System unabhängig

Das Erstaunliche an dieser Simulation ist, dass sie trotz starker Vereinfachung recht genaue Vorhersagen macht, in welche Richtung sich das Gesamtsystem bewegt und welche Übergangsstadien auftreten, wenn einzelne Parameter verändert werden. Weshalb sich Sornette, ausgebildeter Physiker und heute Professor am Departement Management, Technologie und Ökonomie, eines der kompliziertesten biologischen Systeme ausgewählt hat, um eine Simulation durchzuführen, erklärt er damit, dass dessen grundlegende Regeln nicht wesentlich von komplexen soziologischen oder wirtschaftlichen Systemen abweichen würden. Letztlich gehe es darum zu beschreiben, wie Krisen entstehen könnten. Das sei unabhängig vom System, das man mit mathematischen Formeln beschreiben wolle. «Gesundheit ist aber solch ein wichtiges Gut, dass dies genug Motivation für mich ist, mich damit auseinanderzusetzen», sagt er.

Literaturhinweis

Sornette D, Yukalov VI, Yukalova EP, Henry JY, Schwab D, Cobb JP. Endogenous versus exogenous origins of diseases. Journal of Biological Systems. 2008.

 
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