Veröffentlicht: 08.07.08
Wechsel Max Frisch-Archiv

"Max Frisch sagte: Ja, der soll es machen"

Walter Obschlager geht nach 27 Jahren als Leiter des Max-Frisch Archivs an der ETH Zürich in den Ruhestand. Im Gespräch erklärt er, warum er sich zuerst für Dürrenmatt interessierte, welche sinnlichen Erlebnisse Archive bieten und wie Max Frisch auf seine Arbeit als Archivar reagiert hat.

Thomas Langholz
Walter Obschlager in seinem Element.
Walter Obschlager in seinem Element. (Grossbild)

Wenn man sich so viele Jahre mit einer Person beschäftigt; träumt man dann schon nachts von Max Frisch?

(lacht) Nein, ich habe nie von ihm geträumt. Es kann natürlich schon passieren. Ursprünglich war diese Archivar-Stelle ein 50-Prozent-Pensum. Parallel dazu habe ich immer Literatur und Geschichte an einem Gymnasium unterrichtet. Die Beschäftigung mit jungen Leuten hat mir sehr gut getan, denn so musste ich mich neben meiner Arbeit im Archiv auch mit anderen Themen beschäftigen.

Von Archivaren heisst es: Sie tragen schwarze Rollkragenpullis, sind blass und haben keine grauen, sondern verstaubte Haare. Sie arbeiten schweigend in muffigen Kellern ohne Fenster. Stimmt diese Einschätzung?

Das ist eine Karikatur eines Archivars von vor 50 Jahren. In der Tendenz habe ich solche Archivare noch kennengelernt. Da hat man sich möglichst von der Öffentlichkeit ferngehalten, damit die Schätze auf keinen Fall angetastet werden. In den letzten Jahren hat sich in Archiven ungeheuer viel geändert. Jetzt will man zeigen, was man hat und diese Sachen sollen die Besucher auch sehen.

Wie wurden Sie Archivar?

Ich bin sicher ein untypischer Archivar. Ich habe die Matura auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt, bin sozusagen ein Spätgermanist. Nach einer kaufmännischen Lehre habe ich als kaufmännischer Angestellter gearbeitet. Irgendwann war mir klar, dass dies nicht mein Leben sein konnte. Literatur bedeutete für mich schon seit dem 16. Lebensjahr unheimlich viel. Ich habe mir überlegt, dass es einen Weg geben muss, wie ich mich mit Literatur beschäftigen kann. Das war der Grund, warum ich die Matura nachgeholt und Germanistik an der Universität Zürich studiert habe. Über das Danach habe ich mir überhaupt keine Gedanken gemacht. Und dann kommen die Zufälle im Leben. Ich habe 1979/80 bei Professor Peter von Matt abgeschlossen mit einer Arbeit über das Theater in Zürich während der Kriegszeit. Zu diesem Zeitpunkt wurde gerade die Max Frisch-Stiftung gegründet. Peter von Matt war der Präsident, und die erste Aufgabe der Stiftung war es, ein Archiv zu gründen. Peter von Matt meinte, die Aufgabe wäre doch etwas für mich. Ich habe mir das Angebot durch den Kopf gehen lassen. Zu diesem Zeitpunkt war ich kein Frisch-Spezialist. Ich habe mich mehr mit Dürrenmatt auseinandergesetzt. Als ich das von Matt sagte, meinte er: „Das kann man alles werden“, was ja auch stimmt. Mich faszinierte die Aufgabe, aus meinen eigenen Archivbesuchen, die sehr unterschiedlicher Art waren, selbst ein Archiv aufzubauen aus Sicht des Besuchers. Hinzu kam die Vorstellung, ein Archiv für einen noch lebenden Schriftsteller aufzubauen. Ich habe mir das so vorgestellt: Der kommt jeden Tag ins Archiv und schaut was ich gemacht habe und reklamiert. Das waren anfangs meine Bedenken.

Und wie war es dann?

Es kam ganz anders. Es war von Anfang an diese menschliche Begegnung mit Frisch; etwas, was mich von Anfang an sehr beeindruckt hat. Wir haben ein langes Gespräch geführt, bevor ich als Archivar gewählt wurde und danach sagte er: „Der soll das machen“. Als ich das Archiv schon etwas eingerichtet hatte, ist Frisch mal vorbeigekommen und hat sich alles angeschaut; hat genickt und ist wieder gegangen. Er hat sich dann nie mehr eingemischt. Das ist natürlich ein Glücksfall.

Was macht einen guten Archivar aus?

Der Archivar muss dafür sorgen, dass die Materialien in gutem Zustand und leicht verfügbar aufbewahrt werden. Also absolute Offenheit und nicht irgendwelche Kämmerchen mit Materialien, die man lieber für sich reserviert. Für mich ist ein Archivar jemand, der einem Dienstleistungsbetrieb vorsteht. Ganz wichtig ist auch die Kommunikation: Das heisst, mit Leuten reden und Netzwerke bilden zu anderen Archiven.

Wie nähert man sich der Person Max Frisch? Einem Schriftsteller, der auch umstritten war, ein Gigant der deutschsprachigen Literatur?

Ich glaube, da kam mir mein Alter zu Hilfe. Ich war nicht der junge Student, der gerade aus dem Studium kam. Das wäre wahrscheinlich schwierig gewesen, diesem geistigen Koloss gegenüberzutreten. Ich war damals 36 Jahr alt und hatte schon Familie. Mein Studium habe ich zum grössten Teil selbst finanzieren müssen und ich habe auch während des Studiums gearbeitet. Da war bei mir eine gewisse Lebenserfahrung da. Was Frisch nicht ertragen hätte, wäre eine devote Haltung gewesen. Da war er allergisch. Das habe ich später gemerkt, wenn er etwa mit jemandem zu tun hatte, der eine gewisse Unterwürfigkeit an den Tag legte. Ich glaube, er hat es geschätzt, dass er in meiner Person jemand hatte, der ihm auch gegenübertreten konnte.

Sie haben das Max-Frisch-Archiv aufgebaut. Wo steht das Archiv heute?

Mit der Primärliteratur sind wir wohl komplett. Sie ist katalogisiert; mit Ausnahme der bis 2011 gesperrten Briefwechsel und dem ebenfalls bis dann gesperrten Berliner Tagebuch wird nichts Neues dazukommen. Selbstverständlich wird die Sekundärliteratur weiter gesammelt. Es tauchen auch immer noch Briefe oder Typoskripte aus Nachlässen auf. Das Archiv ist jetzt an einem Punkt, wo es sich nach aussen erneuern muss. Stichwort: Digitalisierung. Was soll ins Netz gestellt werden? Das ist auch in Bezug auf die Öffentlichkeit sehr wichtig. Wie kann auf möglichst einfache Art recherchiert werden? Durch die Digitalisierung wird das Originalmaterial geschont, weil man es nicht immer anfasst. Das würde für mich aber nie bedeuten, dass man es nicht mehr zeigt. Das Original hat die Aura des Kunstwerkes - das ist ein Riesenunterschied. Als Archivar ist es mir egal, ob ich das Original eines Briefes habe oder eine Kopie davon, Hauptsache der Text ist hier. Aber – die Besucher und ich selbst freuen uns, wenn wir das Original anschauen können – denn das ist etwas ganz anderes. Das gehört auch zu einem Archiv, diese sinnlichen Erlebnisse.

Wohin soll sich das Archiv entwickeln?

Das Archiv hat während meiner Zeit immer unter finanziellen Problemen gelitten. Oft stellte sich die Frage, ob es überhaupt weitergeht? Erst jetzt mit dem Vertrag mit der ETH Zürich, der im Februar dieses Jahres unterzeichnet wurde, ist das Archiv auf absehbare Zeit gesichert. Jetzt kann man sich verstärkt auf die eigentliche Archivarbeit konzentrieren. Eine neue Werkausgabe muss kommen, die letzte ist von 1986 und völlig veraltet. Und natürlich die Vorbereitungen auf den 100. Geburtstag von Max Frisch 2011 – das ist eine grosse Aufgabe für das Archiv. Deshalb bin ich auch froh, dass es in der ETH-Bibliothek verankert ist. Allein von der Infrastruktur her hat das Archiv, gegenüber den vorherigen Möglichkeiten paradiesische Zustände. Die öffentliche Präsenz muss weiter ein Anliegen sein – seien es Schulklassen, seien es Besucher. Die Leute müssen auch durch Veranstaltungen interessiert werden.

Gibt es noch Material, dass dem Archiv fehlt?

Eigentlich haben wir alles; ausser natürlich Sachen, von denen man nichts weiss.(lacht) Ich habe immer noch die Hoffnung, dass noch Manuskripte auftauchen, insbesondere aus der frühen Zeit, die schlecht dokumentiert ist. Max Frisch hat viel verschenkt und durch seine vielen Umzüge viel verloren. Was hilft, ist natürlich die heutige Bekanntheit des Archivs. Wenn Erben von Nachlässen uns anrufen, sie hätten Briefe oder andere Dokumente von Max Frisch, die sie dem Archiv gerne schenken würden, war und ist das immer eine besondere Freude. Zum Beispiel wusste man, dass Max Frisch sich auf seiner grossen Balkanreise 1933 mit den Leuten der Schweizer Botschaft in Athen anfreundete, sonst wusste man nichts. Eines Tages kommt ein Ehepaar im Archiv mit einem Bündel Briefen von Max Frisch vorbei. Dies war die Korrespondenz mit dem damaligen Gesandten in Athen. Ein Höhepunkt für einen Archivar.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten mit Max Frisch zu diskutieren; zu welchen Themen hätten Sie noch gerne eine Antwort von ihm?

Es würde sich weniger auf das Werk als auf das Leben beziehen. Ich wüsste gerne etwas mehr über seine Jugendzeit. Darüber hat er nie etwas erzählt. Oder die erste Zeit in Amerika, als er 1951/52 mit dem Rockefeller-Stipendium für ein Jahr dort war, was er dort erlebt hat. Da gab es Erlebnisse, über die er nie gesprochen hat und das müssen ganz entscheidende Erlebnisse gewesen sein. Ich habe später oft darüber nachgedacht, ob ich ihn hätte mehr fragen sollen? Es war mir aber immer klar und das habe ich auch später von Freunden bestätigt bekommen, wenn ich ihm zu nahe gekommen wäre, hätte es nicht funktioniert. Er hatte eine Fluchtdistanz und wenn man die überschritten hat, dann wurde es heikel. Sein bester Freund Peter Bichsel hat gesagt: Ich wusste immer, es gibt eine gewisse Grenze, und wenn ich die überschreite, dann hätte es gefährlich werden können. Er wollte niemand zu nahe an sich herankommen lassen. Dass das Verhältnis zwischen ihm und mir zehn Jahre lang so gut funktioniert hat, hat auch damit zu tun, dass er mich in Ruhe arbeiten liess und ich ihn in gewisser Weise auch in Ruhe liess.

Was machen Sie jetzt wenn Sie in Pension gehen?

Wie Max Frisch in seiner Rede 1986 auf den Solothurner Literaturtagen sagte: „Alles mit Ausnahme der Freundschaft hat wenig Bedeutung. Auch seinen Garten zu hegen hat wenig Bedeutung.“ Ich höre jetzt mit 65 auf. Es ist an der Zeit. Es gibt noch zwei bis drei Editionen, die ich schon seit längerer Zeit machen wollte, aber nie dazu gekommen bin. Ich habe noch so viele Bücher zu lesen und finde nun endlich Zeit, Freundschaften wirklich zu pflegen.

Zitate zu Walter Obschlager

"Der Bewahrer im Licht"
"Dass die Werke von Max Frisch immer und immer wieder neu aufgelegt werden und breit verfügbar bleiben, das hat der Suhrkamp Verlag immer auch Walter Obschlager, dem Kenner und Bewahrer, zu verdanken. Wir haben uns in Zürich und in Frankfurt oft getroffen, manchmal zusammen mit Adolf Muschg oder Peter von Matt. Beide wussten, wie entschieden Walter Obschlager die Belange Max Frischs verteidigt hat. Max Frisch dankt es Walter Obschlager gewiss, wenn er von ganz oben auf uns herabblickt. „Und die einen sind im Dunkeln und die anderen sind im Licht …“ – ich wünsche Walter Obschlager, dass er jetzt, am Ende seiner Zeit an der ETH einmal ganz im Licht steht. Er hat es wirklich sehr verdient".
Günter Berg, Geschäftsführer Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg.
„Walter Obschlager hat von seinem Frisch gelernt: er ist, wie jener, kein Missionar, sondern ein Mann der Argumente, des Wissens, der Genauigkeit, ein überzeugender Überzeugter. Ich konnte ihn fragen, was und wann auch immer: Er hatte eine Antwort, er ließ mich nie allein. Er war und ist ein Stiller im besten Sinne des Wortes, prunkte nicht mit dem, womit er hätte prunken können, und hat/hatte ein gesundes Misstrauen gegenüber allen vorlauten Bescheidwissern, von denen er einige erlebt hat.“
Rainer Weiss, ehemaliger Programmgeschäftsführer des Suhrkamp und Insel-Verlags

Max Frisch-Archiv

Max Frisch machte sich schon zu Lebzeiten Gedanken über seinen literarischen Nachlass. Bereits im April 1979 wurden die ersten Pläne für eine Max Frisch-Stiftung ins Leben gerufen. Deren Ziel sollte sein, „die Verwaltung des literarischen Nachlasses mit allen Rechten und Pflichten, die sich aus dessen Verbreitung und Verwertung ergeben.“ Zum ersten Stiftungsrat am 30.Oktober 1979 gehörten neben Max Frisch, Verleger Siegfried Unseld, die Schriftsteller Peter Bichsel und Adolf Muschg sowie Peter von Matt, Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich. Als erstes galt es, ein Archiv zu gründen, das den literarischen Nachlass betreuen sollte. Im Frühjahr 1980 zeigte die ETH Zürich Interesse am Max Frisch-Archiv und bot ihr Unterstützung und Räumlichkeiten an. Seit 1981 ist Walter Obschlager Archivar des Max-Frisch Archivs. Er baute das Archiv in seiner heutigen Form auf. Durch seine Arbeit als Archivar und Mitherausgeber diverser Editionen gilt er als einer der profundesten Kenner des Werkes von Max Frisch. Seit April 2004 ist das Archiv in die Räume der ETH-Bibliothek, Bereich Spezialsammlungen, umgezogen. Das Archiv umfasst rund 10'000 Briefe, etwas 500 Videoaufnahmen, 1000 Fotos sowie Agenden, Notizhefte, Typoskripte sowie sämtliche Veröffentlichungen Max Frischs. Anfang dieses Jahres hat die ETH Zürich einen Vertrag mit der Max Frisch-Stiftung abgeschlossen, der die Existenz des Archivs langfristig sichert. Nachfolgerin von Walter Obschlager ist seit dem 1. Juli 2008 Margit Unser.

 
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