Veröffentlicht: 16.04.08
Mittwochskolumne

Der Tunnel durch den Berg, den es nicht gibt

Ulrich Weidmann
Ulrich Weidmann, Professor für Verkehrssysteme.
Ulrich Weidmann, Professor für Verkehrssysteme. (Grossbild)

Anfang 2001 sprach mich mein damaliger Chef im Kaffeeraum an: „Wäre es möglich, daß Du die Bauherren-Projektleitung für die Führerstandssignalisierung des Lötschberg-Basistunnels übernimmst?“ Eine Führerstandssignalisierung brauchts, wenn Züge mit 200 km/h und mehr verkehren sollen. Um dieses Thema hatte ich bisher einen Bogen gemacht, denn Informatik war nicht mein Ding: Im Studium war ich seinerzeit der Einzige, welcher weder dem (damals neuen) Apple noch der (damals schon alten) Lochkartenmaschine etwas Brauchbares zu entlocken vermochte. Selbst für einen Bauingenieur war dies erbärmlich. Zudem hatte ich gerade erst zur Infrastrukturdivision der SBB gewechselt, nachdem ich mich sechs Jahre lang im Regionalverkehr der SBB mit (anspruchsvollen) Kunden, (hohen) Produktionskosten und (aggressiven) Konkurrenten herumgeschlagen hatte. Und ehrlich gesagt: Vor allem interessierte mich damals das Ganze nicht wirklich.

Die Neugier war stärker. Ich sagte zu und einige Tage später startete ich das Projekt zusammen mit einem Berufskollegen, welcher bei der SBB gänzlich neu war. Dieses Dreamteam tat, was man in solchen Fällen als erstes immer tut: Erstens: Leute aufbieten. Zweitens: Sitzungen organisieren. Drittens: Termine, Kosten, Qualität kontrollieren.

2004 führte mich mein weiterer Berufs- und Lebensweg an die ETH Zürich und ich mußte das Projekt – ich hatte es inzwischen liebgewonnen – an einen Nachfolger übergeben. In den zurückliegenden drei Jahren spezifizierten wir die Anforderungen, führten die internationale Ausschreibung durch und wählten den Lieferanten aus, sodass der Bauherr den Auftrag von gegen hundert Millionen Franken vergeben konnte. Diese große Arbeit war vor allem das Werk hochmotivierter Fachleute der SBB und externer Firmen, welche wir zur Mitarbeit gewinnen konnten. Am 9. Dezember 2007 ging der neue Lötschbergtunnel planmäßig und erfolgreich in Betrieb.

Warum habe ich diese Geschichte für meine erste Kolumne ausgewählt? Weil ich mich gerne daran zurückerinnere? Dies trifft zwar zu, ist aber eigentlich meine persönliche Sache und soll nicht Anlaß zu einem öffentlichen Bekenntnis sein. Oder weil ich einen Beitrag zu dessen Gelingen geleistet habe? Erst recht nicht, denn dieser war bescheiden genug. Keine einzige Spezifikation und keine Zeile Quell-Code stammt von mir (wäre auch nicht sehr hilfreich gewesen).

Vielmehr ist der Lötschberg-Basistunnel ein Prototyp jener Infrastruktursysteme, welche unsere Zukunft prägen werden. Sie werden – bei kleinstmöglichen Kosten - höchsten Anforderungen bezüglich Leistungsfähigkeit, Prozesspräzision und Verfügbarkeit genügen müssen. Tunnels, Hochbauten, Bahn- und Strassennetze oder Leitungssysteme werden zunehmend nur noch die (unerläßlichen) Skelette sein, welche erst durch eine komplexe Steuerungs-, Regelungs- und Sicherungstechnik zum Leben erweckt werden: Papier von 46 Zentimetern Gesamtdicke füllten im Fall des Lötschbergtunnels allein die zugehörigen Ausschreibungsunterlagen. Einige hundert Personenjahre Entwicklungs- und Implementierungsarbeit waren erforderlich, um diese Anforderungen zu erfüllen.

Einstmals scharfe Projektgrenzen lösen sich damit auf: Zahlreiche gegenseitige terminliche und sachliche Abhängigkeiten zwischen Granit, Beton, Stahl, Informationen, Codes und Prozessen bestehen über den ganzen Lebenszyklus und sind zu beherrschen. Jede dieser Infrastrukturen bleibt ein Prototyp und erfordert individuell entwickelte Lösungen. Forschung, Entwicklung und Implementierung gehen dabei ineinander über, sodass ein neues Verhältnis zwischen Wissenschaft, Industrie und Anlageneigner entsteht.

Immer zweitrangiger wird die Disziplin, welcher die Ingenieurinnen und Ingenieure angehören, wichtiger werden Grundfertigkeiten und Denkweisen: Die System- und Prozeßorientierung gesellt sich als unerläßliche Fähigkeit zum weiterhin gefragten soliden Handwerk. Offenheit gegenüber anderen Disziplinen und Neugier werden zu Erfolgsfaktoren, ebenso die Fähigkeit und der Wille zur Zusammenarbeit mit Naturwissenschaftern, Mathematikern, Juristen und Ökonomen. Kurz: Interdisziplinarität ist gefordert, Interdisziplinarität nicht als ein neues Fachgebiet, sondern als Wert. In der Ausbildung vermitteln wir Werte – ob bewußt oder unbewußt. Damit wir solche Werte glaubhaft vermitteln können, müssen wir sie selbst leben.

Für mich ganz persönlich schließlich hat diese Geschichte einmal mehr bestätigt, daß jene Aufgaben oft am schönsten sind, von welchen man zunächst nichts wissen möchte. Der Berg, vor welchem man zu stehen glaubt, erweist sich als Phantom – genau so wie der Lötschberg, den man vergeblich auf der Karte sucht. Damit habe ich Ihnen nicht nur etwas über die Infrastrukturen der Zukunft und über den Tunnel durch einen Berg erzählt, den es gar nicht gibt, sondern Sie haben auch mich ein wenig kennengelernt.

Zum Autor

Mit Ulrich Weidmann gehört ein Vertreter des Departements Bau, Umwelt und Geomatik (D-BAUG) zum Kolumnistenteam. Er ist seit 1. Juni 2004 ordentlicher Professor für Verkehrssysteme am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT). Weidmann wurde 1963 als Bürger von Einsiedeln geboren. Nach seinem Bauingenieur-Studium an der ETH Zürich war er ab 1988 Assistent am IVT und schrieb in dieser Zeit seine Dissertation. Anschliessend fand Ulrich Weidmann den Weg in die Praxis. Von 1994 bis 2004 arbeitete er für die SBB. Er war unter anderem massgeblich beteiligt an der Neuausrichtung des Regionalverkehrs auf die Liberalisierung sowie am netzweiten Ausbau der S-Bahnen in der Schweiz. 2001 bis 2004 führte er den Geschäftsbereich Engineering und war dabei für die gesamte Bahntechnik vom Gleisbau über die Umwelttechnik bis zur Zugsicherung verantwortlich. Zudem leitete er bauherrenseitig das Projekt Führerstandssignalisierung der Lötschberg-Basislinie. Mit viel Erfahrung im Gepäck kehrte er an das IVT der ETH zurück. Sein Lehrstuhl befasst sich in der Forschung mit der Verkehrserschliessung von Agglomerationen, dem Gütertransport im Rahmen der globalen Logistik, dem stabilen Betrieb hochbelasteter Netze des Bahn- und Stadtverkehrs sowie den Prozessen des Fussgängerverkehrs. Persönliche Schwerpunktthemen sind die Ordnungspolitik und Regulierung, Unternehmensstrategien und Innovationsmanagement.

 
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