Veröffentlicht: 07.11.12
Kolumne

Sammlungen: Die verborgenen Schätze der ETH

Wolfram Neubauer
Wolfram Neubauer ist seit dem 1. Januar 1997 der Direktor der ETH-Bibliothek. (Bild: ETH Zürich)
Wolfram Neubauer ist seit dem 1. Januar 1997 der Direktor der ETH-Bibliothek. (Bild: ETH Zürich) (Grossbild)

Gegenwärtig läuft an der altehrwürdigen Universität Göttingen eine Ausstellung, die sich mit den Sammlungen der Universität «als Raum des Wissens, der Kultur und der Forschung» befasst. Im Kontext zur dieser Ausstellung unter dem Titel «Dinge des Wissens» fand darüber hinaus Anfang Oktober ein zweitägiges Symposium statt, in dem unter dem Motto «Universität der Dinge», der Frage nachgegangen wurde, worin denn heute die Bedeutung von universitären Sammlungen liege, beziehungsweise liegen könnte oder sollte.

Hierbei wurde ziemlich klar, dass Sammlungen von Objekten aller Art, von Archivalien und Büchern, von Grafiken und Fotografien sowie von sonstigen Artefakten auf den ersten Blick vielleicht wenig spektakulär daherkommen: eher etwas altmodisch, eher etwas traditionell und für Forschung und Lehre nicht mehr wirklich von zentralem Interesse. Hinzu kommt das Faktum, dass der Unterhalt von häufig grossen Objektsammlungen nicht zum Nulltarif zu haben ist. Man braucht qualifiziertes Personal, man braucht entsprechende Räumlichkeiten und Aufbewahrungsbedingungen, kurz... man braucht Geld.

Bei näherem Hinsehen allerdings wird rasch deutlich, dass die Sache doch etwas komplexer ist. Nicht alles, was alt ist, ist irrelevant und manches alte Dokument, das in den Archiven schlummerte, hat weitreichende wissenschaftliche Konsequenzen gehabt. Die eine oder andere in Herbarien archivierte Pflanze ist heute vielleicht von der Bildfläche verschwunden, so dass gerade diesem «Archivobjekt» eine erhebliche wissenschaftliche Relevanz zukommen kann.

So ist es eigentlich nicht wirklich eine Überraschung, dass sich die Einschätzung universitärer Sammlungen in den letzten Jahren zu verändern beginnt. Schritt für Schritt rückt jetzt die Frage ins Blickfeld, wie und in welchem Umfang wissenschaftliche Sammlungen einen relevanten Beitrag für Forschung, Entwicklung und Lehre leisten können. Sind universitäre Sammlungen nicht auch wesentliche Elemente einer wissenschaftlichen Infrastruktur, wie dies etwa für IT-Infrastrukturen und/oder für wissenschaftliche Grossgeräte gilt?

Einer der wesentlichen Gründe für diese «Wiederentdeckung» sind hierbei, vielleicht etwas überraschend, die Möglichkeiten der Digitalisierung von Dokumenten und Objekten. Auf den ersten Blick ist dies verwunderlich, da man landläufig mit Computern und/oder elektronischen Medien die Begriffe «Schnelllebigkeit» oder «kurzzeitige Aktualität» assoziiert. Auch hier wiederum zeigt eine vertiefte Betrachtung, dass es genau umgekehrt ist.

Die heutigen Möglichkeiten der Digitalisierung geben den wissenschafts- und naturhistorischen Kollektionen erst ein Gesicht und schaffen damit erst eine weltweite Öffentlichkeit, die in dieser Form bisher unbekannt war. Musste man bisher zum Objekt kommen, kommt dieses nun zum Betrachter; wenn auch «nur» in digitaler Form. Durch diese Form der «digitalen Öffentlichkeit» gewinnt die Rezeption der Sammlungen von Gedächtnisinstitutionen eine Dimension, die auf den traditionellen Wegen bisher ausgeschlossen war.

Wissenschaftliche Sammlungen sind auf der einen Seite also publikumswirksame Kollektionen von Objekten oder Dokumenten aller Art, die eine breite Öffentlichkeit faszinieren können. Hierbei haben sich die Möglichkeiten der Massendigitalisierung für eine breite Kommunikation in die Gesellschaft als äusserst wichtige Treiber erwiesen. Andererseits stellen wissenschaftliche Sammlungen vom Grundsatz her bedeutende Elemente einer universitären Forschungsinfrastruktur dar. Voraussetzung ist hierbei natürlich ihre Einbindung in den wissenschaftlichen Kontext.

Wie sieht nun die Situation an der ETH Zürich aus? Nicht nur die Universität Göttingen und viele andere bedeutende Universitäten besitzen umfangreiche und gleichzeitig renommierte wissenschaftliche Sammlungen. Gleiches gilt für die ETH Zürich!

So verfügt die ETH Zürich über etwa 20 unterschiedliche wissenschaftliche Sammlungen und Archive, die äusserst wertvolle und gleichzeitig wissenschaftlich und/oder kulturhistorisch bedeutende Objekte beinhalten. Hierzu gehören etwa Originalwerke von Kopernikus, Galilei oder Newton, Grafiken von Dürer, Giacometti und Palermo, aber auch die etwa zwei Millionen Objekte der Entomologischen Sammlung, die im Laufe einer 150-jährigen Sammeltätigkeit zusammengetragen wurden. Hinzu kommen darüber hinaus etwa die Materialsammlung, als Kooperationsprojekt des Departements Architektur und der ETH-Bibliothek, oder die umfangreiche Sammlung von Objekten, die im Kontext des Kulturgüterschutzes an der ETH Zürich aufbewahrt werden.

Dieser sehr heterogene Strauss an Objekten, Dokumenten und Artefakten spiegelt also in gewisser Weise das Wirken, aber auch das über viele Jahrzehnte angesammelte Wissen der ETH Zürich wieder. Und dieses Wissen gilt es zu pflegen und vor allem der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Und bei diesem Bemühen können die Möglichkeiten der Digitalisierung ausgewählter, wissenschaftlich und/oder kulturhistorisch besonders bedeutsamer Kollektionen einen besonderen Beitrag leisten. Die wissenschaftlichen Sammlungen der ETH Zürich stellen also (zumindest teilweise) verborgene Schätze dar, die wir schleunigst heben sollten.

Hierzu gehören allerdings Konzepte, die darlegen, was denn die Aufgaben und die Bedeutung von Wissenschaftlichen Sammlungen sind und wo ihre Einbindung in Wissenschaft, Forschung und Lehre erkennbar wird. Voraussetzung für die Entwicklung eines hochschulweiten Konzeptes für alle Sammlungen und Archive der ETH Zürich ist dann die Diskussion mit allen betroffenen Stakeholdern, die für die nächsten Monate vorgesehen ist. Anschliessend wird sich zeigen, welchen Stellenwert die ETH Zürich zukünftig ihren Sammlungen und Archiven zuweisen wird. Hierzu werden naturgemäss wissenschaftliche Aspekte, aber auch Fragen hinsichtlich der Bereitstellung entsprechender Ressourcen, eine wesentliche Rolle spielen.

Zum Autor

Wolfram Neubauer ist der Direktor der ETH-Bibliothek. Neubauer wurde am 15. September 1950 in Rain/Lech (D) geboren. Er studierte Mineralogie und Chemie an der TU München und Universität München. Seine Doktorarbeit verfasste er in den Jahren 1979 und 1982 über ein geochemisches Thema am Mineralogisch-Petrografischen Institut der Universität München.
Von 1981 bis 1983 absolvierte Neubauer eine postgraduale Ausbildung zum wissenschaftlichen Bibliothekar und war anschliessend für mehrere Jahre als Leiter der Bibliothek eines internationalen Pharmaunternehmens tätig. Bis Ende 1996 war er Leiter der Zentralbibliothek des Forschungszentrums Jülich, einer der grossen nationalen Forschungseinrichtungen Deutschlands. Seit dem 1. Januar 1997 ist er der Direktor der ETH-Bibliothek. Nebenberuflich ist er in verschiedenen Fachgremien tätig (u.a. Mitglied im Ausschuss für Wissenschaftliche Bibliotheken und Informationssysteme der DFG, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Museums).