Die Monte-Rosa-Hütte in der Favela
Die ETH-Professoren Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner haben erneut einen internationalen Preis erhalten für das Projekt eines Gemeinschaftszentrums in der grössten Favela von São Paulo. Was treibt diese rastlosen Architekten und Stadtplaner durch die Slums dieser Welt?
Meine
Herren, eigentlich sind ETH-Architekten bekannt für ihre Prestigebauten in vornehmen
Vierteln, Sie aber realisieren Ihre Werke in den Gettos der Minderbegüterten.
Kann man da auch berühmt werden?
Klumpner: Wer in den vergangenen Jahrhunderten von
Architektur sprach, dachte tatsächlich vorerst an Bauten für Eliten von Eliten.
Architektonische Zeugnisse von sogenannten populären Bauten sind kaum erhalten
worden. Im letzten Jahrzehnt ist jedoch die soziale Verantwortung in
Architektur und Städtebau wie nie zuvor in den Vordergrund gerückt und hat an
Prestige gewonnen.
Was
heisst das konkret?
K: Mehr als eine Milliarde Bewohner dieses
Planeten leben in Slums im urbanen Süden, das entspricht etwa der gesamten Bevölkerung
von Indien. Ihnen ein menschenwürdiges Zuhause zu schaffen, ist eine riesige
Herausforderung. Sie betrifft uns alle, besonders aber die künftigen Urban
Designer, die an der ETH Zürich ihr Studium absolvieren. Wir möchten dieser
kommenden Generation von Fachleuten die vielschichtige Problematik aufzeigen, jedoch
auch Lösungen für eine nachhaltige Stadtentwicklung vermitteln.
Also
ein Abschied von der Stararchitektur?
Brillembourg: Die politischen und demografischen
Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben bewirkt, dass anstelle von
Prestigebauten immer mehr Gebäudeprojekte bevorzugt werden, bei denen die
gesellschaftliche Bedeutung wichtiger ist als die formale Ästhetik. Städtebau
hat weit mehr mit Politik zu tun, als wir gemeinhin annehmen. In Anlehnung an
die berühmte Metapher «Architektur ist gefrorene Musik» könnte man auch sagen
«Städtebau ist gefrorene Politik». In den Bauten einer urbanen Struktur ist die
gesamte politische Vergangenheit festgehalten. Wenn wir den «Aggregatszustand» ändern,
wird auch urbaner Wandel wieder möglich, mit andern Prioritäten wie
beispielsweise weniger Prestigebauten.
Abgesehen
von Brasilien sind Sie auch in andern Sanierungsprojekten für Slums engagiert.
Gibt es gewisse Merkmale, die für solche informellen Siedlungen typisch sind?
K: Ausser in Südamerika haben wir in den
letzten Jahren sowohl im Nahen Osten, in Nord- und Südafrika wie auch in Asien gearbeitet.
Die Lebensbedingungen in den Slumzonen sind Teil eines gewaltigen, komplexen Umgestaltungsprozesses,
der neben der Globalisierung auch die Verstädterung sowie die sogenannte Informalisierung
einschliesst. Hier geht es darum, all die informellen Praktiken in Slums in
eine gesellschaftlich anerkannte, feste Form zu bringen – beispielsweise bei Eigentumsfragen,
der Rechtsanwendung, bei Infrastrukturen wie Strassen, Wasser, Strom, bei der
Mikrowirtschaft in den Quartieren. In einer ernsthaft geführten
Nachhaltigkeitsdebatte müssen hier neben technischen unbedingt auch soziale und
kulturelle Gesichtspunkte einbezogen werden.
Bisher
galten Favelas als soziale Sackgassen. Wer dort landete, blieb auch dort.
Bringen die Verbesserungsaktionen nun eine gewisse gesellschaftliche Mobilität?
B: Favelas sind überaus dynamische Orte mit
ständiger Veränderung. Um Lösungen zu finden, von denen möglichst alle
Beteiligten profitieren, sind die Interessen der Bewohner einzubeziehen. Das
erfordert ungemein viel Kreativität und Fingerspitzengefühl. Vor allem aber
handelt es sich um Langzeitprojekte mit Prozesscharakter, die sich von
herkömmlichen Stadtplanungen deutlich unterscheiden. Es braucht neue
Transportsysteme wie etwa Gondelbahnen, um die engen Quartiere zu erschliessen,
aber auch neue Finanzierungsmodelle, um die wirtschaftlichen Bedingungen in
Favelas zu verbessern. Zudem sind Programme für Erziehung, Sport und Kultur
nötig, um die Lebensqualität zu erhöhen. Wir schauen uns die Orte jeweils sehr
genau an und entwickeln massgeschneiderte, standortspezifische Projekte. Doch Ihre
Frage lässt sich nicht so einfach beantworten.
Sie
beide wurden zusammen ein weiteres Mal mit einem Holcim Award für das Gemeinschaftszentrum
in São Paulo ausgezeichnet. Das Gebäude ragt markant aus den Hütten der Favela
heraus. Bleibt das Werk mit einer Musikschule nicht ein Fremdkörper, von
externen Fachleuten hingesetzt?
K: Zuerst möchten wir festhalten, dass dieses Projekt betreffend Ausstrahlung für uns ein
Pendant zur Neuen Monte-Rosa-Hütte darstellt, wo auch die ETH Zürich forscht.
Nur steht diese Fábrica de Música nicht in den abgeschiedenen Alpen, sondern
mitten im prallen Leben einer Favela, wo ebenfalls zentrale Infrastrukturen
fehlen. Auch wenn das Gemeinschaftszentrum als Fremdkörper erscheint,
ist das Bauwerk voll akzeptiert. Es ist nämlich nicht unser persönliches
Projekt, sondern dasjenige eines Stadtteils mit über 100'000 Einwohnern. Die
hier eingesetzten Technologien haben einen sehr hohen Informationswert für die
Nachbarschaft. So erwarten wir, dass die umliegenden Häuser schon bald auch Fotovoltaik
oder Wasserfilter verwenden. Daher ist es wichtig,
erfolgreiche Projekte zu kommunizieren, weil eben Sichtbarkeit und Bekanntheitsgrad
von grossem Vorteil sind. Der Preis, den die Holcim-Stiftung verleiht, motiviert
uns, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.
Welche Kompetenzen in
Forschung und Lehre erfordert die Aufbesserung von Favelas? Was trägt die ETH
Zürich dazu bei?
B: Bereits seit 2007 arbeiten wir an
fachübergreifenden Forschungsprojekten, die sich mit Wohnbau, Infrastrukturen
und der Stabilisierung von Risikozonen im steilen Gelände befassen. Statt die
Favelas abzureissen, schlagen wir alternative Lösungen vor, in die bereits zu
Beginn sozio-ökonomische Aspekte wie Bildung, Einkommen und Eigentum einfliessen.
Damit können wir das Bauen effektiv nachhaltig gestalten. Das ist Neuland in
der Städteplanung, stellt aber angesichts der titanischen Aufgaben in Slums
weltweit einen Riesenmarkt dar. Die grössten demografischen und
wirtschaftlichen Wachstumsraten erwarten wir in den nächsten Jahren nicht in
den Megacitys, sondern in den mittelgrossen Städten der Schwellenländer. Dort
werden folglich heute diejenigen Entscheidungen getroffen, die in Zukunft die
Nachhaltigkeit unseres Planeten bestimmen. Es gilt daher, möglichst rasch die Zusammenarbeit
in Forschungsprojekten auszuloten und auch zu verwirklichen.
Urban Think Tank
Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner sind Professoren für Architektur und Städtebau am Departement für Architektur und führen die Professur wie auch das Architekturbüro «Urban-Think Tank» in Caracas gemeinsam. Den beiden Wissenschaftlern wurde gestern Donnerstag (23. August) vor Ort in der Favela Paraisópolis in São Paulo der mit 100‘000 US-Dollar dotierte silberne globale Holcim Award für nachhaltiges Bauen verliehen. Letztes Jahr erhielten sie für das gleiche Projekt bereits den goldenen regionalen Holcim Award für Lateinamerika.
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