Veröffentlicht: 24.08.12
Science

Die Monte-Rosa-Hütte in der Favela

Die ETH-Professoren Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner haben erneut einen internationalen Preis erhalten für das Projekt eines Gemeinschaftszentrums in der grössten Favela von São Paulo. Was treibt diese rastlosen Architekten und Stadtplaner durch die Slums dieser Welt?

Interview: Beat Gerber
Alfredo Brillembourg (rechts) und Hubert Klumpner: Die ETH-Professoren für Architektur und Städtebau forschen und lehren auf dem Gebiet des informellen Urbanismus. (Bild: Urban-Think Tank)
Alfredo Brillembourg (rechts) und Hubert Klumpner: Die ETH-Professoren für Architektur und Städtebau forschen und lehren auf dem Gebiet des informellen Urbanismus. (Bild: Urban-Think Tank) (Grossbild)

Meine Herren, eigentlich sind ETH-Architekten bekannt für ihre Prestigebauten in vornehmen Vierteln, Sie aber realisieren Ihre Werke in den Gettos der Minderbegüterten. Kann man da auch berühmt werden?
Klumpner:
Wer in den vergangenen Jahrhunderten von Architektur sprach, dachte tatsächlich vorerst an Bauten für Eliten von Eliten. Architektonische Zeugnisse von sogenannten populären Bauten sind kaum erhalten worden. Im letzten Jahrzehnt ist jedoch die soziale Verantwortung in Architektur und Städtebau wie nie zuvor in den Vordergrund gerückt und hat an Prestige gewonnen.

Was heisst das konkret?
K:
Mehr als eine Milliarde Bewohner dieses Planeten leben in Slums im urbanen Süden, das entspricht etwa der gesamten Bevölkerung von Indien. Ihnen ein menschenwürdiges Zuhause zu schaffen, ist eine riesige Herausforderung. Sie betrifft uns alle, besonders aber die künftigen Urban Designer, die an der ETH Zürich ihr Studium absolvieren. Wir möchten dieser kommenden Generation von Fachleuten die vielschichtige Problematik aufzeigen, jedoch auch Lösungen für eine nachhaltige Stadtentwicklung vermitteln.

Also ein Abschied von der Stararchitektur?
Brillembourg:
Die politischen und demografischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben bewirkt, dass anstelle von Prestigebauten immer mehr Gebäudeprojekte bevorzugt werden, bei denen die gesellschaftliche Bedeutung wichtiger ist als die formale Ästhetik. Städtebau hat weit mehr mit Politik zu tun, als wir gemeinhin annehmen. In Anlehnung an die berühmte Metapher «Architektur ist gefrorene Musik» könnte man auch sagen «Städtebau ist gefrorene Politik». In den Bauten einer urbanen Struktur ist die gesamte politische Vergangenheit festgehalten. Wenn wir den «Aggregatszustand» ändern, wird auch urbaner Wandel wieder möglich, mit andern Prioritäten wie beispielsweise weniger Prestigebauten.

Abgesehen von Brasilien sind Sie auch in andern Sanierungsprojekten für Slums engagiert. Gibt es gewisse Merkmale, die für solche informellen Siedlungen typisch sind?
K:
Ausser in Südamerika haben wir in den letzten Jahren sowohl im Nahen Osten, in Nord- und Südafrika wie auch in Asien gearbeitet. Die Lebensbedingungen in den Slumzonen sind Teil eines gewaltigen, komplexen Umgestaltungsprozesses, der neben der Globalisierung auch die Verstädterung sowie die sogenannte Informalisierung einschliesst. Hier geht es darum, all die informellen Praktiken in Slums in eine gesellschaftlich anerkannte, feste Form zu bringen – beispielsweise bei Eigentumsfragen, der Rechtsanwendung, bei Infrastrukturen wie Strassen, Wasser, Strom, bei der Mikrowirtschaft in den Quartieren. In einer ernsthaft geführten Nachhaltigkeitsdebatte müssen hier neben technischen unbedingt auch soziale und kulturelle Gesichtspunkte einbezogen werden.

Bisher galten Favelas als soziale Sackgassen. Wer dort landete, blieb auch dort. Bringen die Verbesserungsaktionen nun eine gewisse gesellschaftliche Mobilität?
B:
Favelas sind überaus dynamische Orte mit ständiger Veränderung. Um Lösungen zu finden, von denen möglichst alle Beteiligten profitieren, sind die Interessen der Bewohner einzubeziehen. Das erfordert ungemein viel Kreativität und Fingerspitzengefühl. Vor allem aber handelt es sich um Langzeitprojekte mit Prozesscharakter, die sich von herkömmlichen Stadtplanungen deutlich unterscheiden. Es braucht neue Transportsysteme wie etwa Gondelbahnen, um die engen Quartiere zu erschliessen, aber auch neue Finanzierungsmodelle, um die wirtschaftlichen Bedingungen in Favelas zu verbessern. Zudem sind Programme für Erziehung, Sport und Kultur nötig, um die Lebensqualität zu erhöhen. Wir schauen uns die Orte jeweils sehr genau an und entwickeln massgeschneiderte, standortspezifische Projekte. Doch Ihre Frage lässt sich nicht so einfach beantworten.

Sie beide wurden zusammen ein weiteres Mal mit einem Holcim Award für das Gemeinschaftszentrum in São Paulo ausgezeichnet. Das Gebäude ragt markant aus den Hütten der Favela heraus. Bleibt das Werk mit einer Musikschule nicht ein Fremdkörper, von externen Fachleuten hingesetzt?
K:
Zuerst möchten wir festhalten, dass dieses Projekt betreffend Ausstrahlung für uns ein Pendant zur Neuen Monte-Rosa-Hütte darstellt, wo auch die ETH Zürich forscht. Nur steht diese Fábrica de Música nicht in den abgeschiedenen Alpen, sondern mitten im prallen Leben einer Favela, wo ebenfalls zentrale Infrastrukturen fehlen. Auch wenn das Gemeinschaftszentrum als Fremdkörper erscheint, ist das Bauwerk voll akzeptiert. Es ist nämlich nicht unser persönliches Projekt, sondern dasjenige eines Stadtteils mit über 100'000 Einwohnern. Die hier eingesetzten Technologien haben einen sehr hohen Informationswert für die Nachbarschaft. So erwarten wir, dass die umliegenden Häuser schon bald auch Fotovoltaik oder Wasserfilter verwenden. Daher ist es wichtig, erfolgreiche Projekte zu kommunizieren, weil eben Sichtbarkeit und Bekanntheitsgrad von grossem Vorteil sind. Der Preis, den die Holcim-Stiftung verleiht, motiviert uns, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.

Welche Kompetenzen in Forschung und Lehre erfordert die Aufbesserung von Favelas? Was trägt die ETH Zürich dazu bei?
B:
Bereits seit 2007 arbeiten wir an fachübergreifenden Forschungsprojekten, die sich mit Wohnbau, Infrastrukturen und der Stabilisierung von Risikozonen im steilen Gelände befassen. Statt die Favelas abzureissen, schlagen wir alternative Lösungen vor, in die bereits zu Beginn sozio-ökonomische Aspekte wie Bildung, Einkommen und Eigentum einfliessen. Damit können wir das Bauen effektiv nachhaltig gestalten. Das ist Neuland in der Städteplanung, stellt  aber angesichts der titanischen Aufgaben in Slums weltweit einen Riesenmarkt dar. Die grössten demografischen und wirtschaftlichen Wachstumsraten erwarten wir in den nächsten Jahren nicht in den Megacitys, sondern in den mittelgrossen Städten der Schwellenländer. Dort werden folglich heute diejenigen Entscheidungen getroffen, die in Zukunft die Nachhaltigkeit unseres Planeten bestimmen. Es gilt daher, möglichst rasch die Zusammenarbeit in Forschungsprojekten auszuloten und auch zu verwirklichen.

Urban Think Tank

Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner sind Professoren für Architektur und Städtebau am Departement für Architektur und führen die Professur wie auch das Architekturbüro «Urban-Think Tank» in Caracas gemeinsam. Den beiden Wissenschaftlern wurde gestern Donnerstag (23. August) vor Ort in der Favela Paraisópolis in São Paulo der mit 100‘000 US-Dollar dotierte silberne globale Holcim Award für nachhaltiges Bauen verliehen. Letztes Jahr erhielten sie für das gleiche Projekt bereits den goldenen regionalen Holcim Award für Lateinamerika.