Veröffentlicht: 19.08.11
Globetrotter

Not macht Tokios Bevölkerung erfinderisch

ETH-Student Thomas Geissmann erlebt, wie Japan nach der Atomkatastrophe von Fukushima mit weniger Strom leben lernt und dabei Energiesparen zur Tugend erhebt. Und wie die radioaktive Belastung von Lebensmitteln die Japaner beschäftigt.

Thomas Geissmann
Monitoren in der Shinagawa Station zeigen die Kapazitätsauslastung des Stromnetzes an. (Bild: Thomas Geissmann / ETH Zürich)
Monitoren in der Shinagawa Station zeigen die Kapazitätsauslastung des Stromnetzes an. (Bild: Thomas Geissmann / ETH Zürich) (Grossbild)

Japan ist ein hoch technologisiertes Land. Die Einstellung der Menschen gegenüber der Technologie, Maschinen, Automaten und Robotern ist durchaus entspannt: So wird in einfacheren Restaurants das Essen nicht beim Kellner, sondern beim Automaten bestellt. Bei einigen Kaffeeautomaten wird die Zubereitung des Kaffees über mehrere Kameras im Innern des Automaten live per Bildschirm übertragen, und die Toiletten haben so viele Knöpfe und Hebel, dass, falls man wie ich des Japanischen relativ unkundig ist, einige Anläufe gebraucht werden, bis die richtige Taste gefunden ist. Gegenüber Naturgewalten stösst aber auch die Technologie an ihre Grenzen, was die japanische Gesellschaft durch die Ereignisse in Fukushima-Daiichi bitter erfahren musste: Das Anbringen sämtlicher Notstromgeneratoren an der gleichen Stelle - auf Meerseite ca. 10 Meter über der Wasserlinie - hat sich bei einer vom Meer her kommenden 14 Meter hohen Wasserwand als fataler Fehler erwiesen.

Beinahe zum Blackout

In Tokio, wo die Erde auch heute immer wieder ein bisschen bebt, sind Lebensmittel mit potentiell erhöhten Strahlungswerten und die momentane Stromknappheit die am stärksten wahrnehmbaren Folgen des 11. März. Landesweit steht noch etwa ein Drittel der nominellen AKW-Kapazität von rund 50 GW zur Verfügung, was einer der Gründe dafür ist, weshalb Tepco nun nicht einfach Strom aus anderen Landesregionen importieren kann. Der andere Grund ist, dass in Japan zwei Netz-Standards gelten: 50 Hertz und 60 Hertz. Das ist weltweit einmalig. Was für die Stromfirmen und ihre überteuerten Monopole bis vor Fukushima ein Segen war, rächt sich nun, da Tepco mit dem 50 Hz-Netz kaum Strom aus dem südlichen 60 Hz-Netz beziehen kann.

Tepco, das ganz Tokio und damit einen Drittel der Bevölkerung Japans mit Strom beliefert, hat von ehemals 17 Kernkraftwerken noch vier am Laufen. Und obwohl Tepco in Rekordzeit zahlreiche, zuvor ausser Betrieb genommene, fossil befeuerte Kraftwerke wieder in Betrieb genommen hat, herrscht in Tokio nun eine partielle Stromknappheit. Partiell deshalb, weil diese eigentlich nur zu Spitzenzeiten um zwei Uhr nachmittags problematisch ist: Vor einigen Wochen, an den ersten wirklich heissen Tagen, wurden schon 92 Prozent der Kapazitätsobergrenze erreicht - zum Blackout hätte nicht mehr viel gefehlt. In der Nacht hingegen ist Strom reichlich vorhanden. Tokio ist deshalb nicht düster, sondern vielerorts immer noch erheblich stärker beleuchtet als beispielsweise Zürich.

Originelle Stromsparideen

«Netterweise» ist der diesjährige Sommer in Tokio besonders heiss. Temperaturen über 30 Grad Celsius sind keine Seltenheit, wobei die hohe Luftfeuchtigkeit die gefühlte Temperatur noch etwas höher erscheinen lässt. Wären in den vergangenen Jahren mit den Unmengen von Tepco ins Netz eingespeistem Strom die fast in sämtlichen Räumen vorhandenen Klimaanlagen in Betrieb gesetzt worden, so ist dies jetzt nicht mehr möglich. In Tokio geben sich nun alle Mühe, möglichst viel Strom einzusparen. Daraus entstehen zahlreiche Ideen: Die Zentralregierung von Tokio, die über eine rund drei Mal höhere Wirtschaftsleistung als die der Schweiz gebietet, hat einen Wettbewerb für ein Gerät ausgeschrieben, das Abkühlung verspricht, ohne Strom zu verbrauchen.

Diesen Wettbewerb haben Mitstudenten an meinem Institut gewonnen. Sie entwickelten einen einfachen Ventilator, der wie eine alte Nähmaschine per Pedal betrieben wird. Mit dem Preisgeld organisieren sie nun Workshops, in denen Kinder den Ventilator nachbauen können. Aus praktischen Gründen wurden bei uns am Lab dann aber doch elektrisch betriebene Ventilatoren angeschafft, welche verglichen mit Klimaanlagen erheblich sparsamer sind.

Cool Biz ohne Krawatte

In der Metro wird auf einigen Bildschirmen die aktuelle und erwartete Kapazitätsauslastung in Tokio angezeigt. Auf den anderen Bildschirmen laufen, neben Verhaltensregeln im Falle von Erdbeben, kurze Anleitungen zum Stromsparen. Nach diesen Tipps, produziert von Grossfirmen, wird Eigenwerbung für den neu entwickelten energiesparenden Kühlschrank gemacht. In der Umgebung grössere Bahnhöfe werden mit Werbung bedruckte Fächer verteilt, damit sich die Leute in den stark gefüllten Zügen Kühlung verschaffen können. Häufig ist dies nicht mal notwendig: Um vor allem ältere Leute vor einem Hitzekollaps zu bewahren, werden die Züge klimatisiert. Wenige schwach gekühlte Wagen werden speziell gekennzeichnet.

Bis auf ein paar herausgeschraubte Glühbirnen am Lab, unbeleuchteten Grossreklamen, den Hinweis, für weniger als drei Stockwerke doch bitte nicht den Lift zu benutzen und die Räume lediglich auf 28 Grad Celsius herunterzukühlen, macht sich der Strommangel in Tokio nicht stark bemerkbar. Bezüglich der 28 Grad warmen Innenräumen kann man noch erwähnen, dass diesen Sommer in Tokio «Cool Biz» angesagt ist: Ausnahmsweise dürfen Geschäftsleute auf Krawatte und Jackett verzichten.

Ein fast normales Leben

Mein Leben in Tokio wird durch den lediglich zu Spitzenzeiten herrschenden Strommangel also nicht stark tangiert. So erlebe ich den unerreichten Service beim Einkaufen (in ausnahmslos allen Läden), die ausserordentliche Höflichkeit der Menschen, die Rücksichtnahme und die schier unglaubliche Auswahl an Restaurants in derselben Art und Weise, wie ich dies wohl auch vor dem 11. März getan hätte. Auch die bekannte niedrige Kriminalität wird einem Tag für Tag vor Augen geführt: Man sieht beispielsweise Frauen, die ihren Sitzplatz an stark frequentierten Orten, auch wenn sie alleine sind, mit ihrer prall gefüllten Handtasche reservieren, um einen Kaffee holen zu gehen. An der Uni werden viele Velos gar nicht erst abgeschlossen. Und die Fensterverriegelungen, auch im Erdgeschoss, sind oftmals derart einfach (um nicht zu sagen schlecht), dass sie in der Schweiz wohl als Einladung an Einbrecher verstanden würden.

Die Unmengen an Getränkeautomaten, welche sich oft (ganz japanisch) in Gruppen am wohlsten fühlen, können bei Katastrophen als lokale Flüssigkeitsspender fungieren. Es gibt deshalb an den Automaten einen Knopf, der im Falle einer Katastrophe, wie sie in Tokio in Form eines grossen Erdbebens seit längerem erwartet wird, betätigt werden kann. Die Getränke würden danach gratis aus dem Automaten kommen. Man stelle sich eine solche Funktion in Zürich vor; der Automatenbetreiber könnte nach wenigen Wochen dicht machen. In der jetzigen Zeit profilieren sich die Automaten aber vor allem durch ihren enormen Stromverbrauch, da sie oft an der prallen Sonne stehen. Manchmal fünf und mehr nebeneinander, damit sich jemand an einem kühlen Getränk erfrischen oder sich ein zuvor auf minus 24 Grad Celsius heruntergekühltes und anschliessend automatisch per Mikrowelle erwärmtes Gericht zu Gemüte führen kann.

Essgewohnheiten anpassen – oder auch nicht

Während die Umgebungsstrahlungswerte in Tokio unbedenklich sind, macht die Bevölkerung Tokios nun – wie Europa nach Tschernobyl – die Erfahrung von möglichen radioaktiven Belastungen durch einige Lebensmittel. Dieses Thema beschäftigt nicht nur die verbliebenen Gaijin (=Ausländer) stark, sondern auch die Japaner, selbst wenn nur wenige gerne darüber reden.

Es ist jedem selbst überlassen, wie er damit umgeht und inwiefern er seine Essgewohnheiten diesen Umständen anpasst. Währendem einige darauf achten, was sie einkaufen und was sie im Restaurant bestellen, schränken sich andere in dieser Beziehung kaum ein und verlassen sich auf die Kontrollen der Regierung. Diese bemüht sich, Lebensmittelkontrollen möglichst flächendeckend durchzuführen. Dies führte dazu, dass Spinat und Rindfleisch aus gewissen Regionen aus dem Verkehr gezogen wurden. Ich persönlich versuche, auf Gemüse aus dem Norden Japans und der Region um Tokio zu verzichten. In den Supermärkten wird bei sämtlichem Gemüse und bei den meisten anderen Lebensmitteln der Herstellungsort deklariert. Japan importiert zudem einen grossen Teil seiner Lebensmittel. Jeder hat also freie Wahl, was er essen will.

Zum Autor

Thomas Geissmann studiert am Departement Management, Technologie und Ökonomie (D-MTEC). Er absolviert derzeit ein Austauschsemester am Tokyo Institute of Technology und ein Praktikum bei ABB K.K. (Japan) im Bereich Smart Grid. Vom Tokyo Tech hat er ein Kikin-Scholarship erhalten und von der ETH Zürich ein Reisestipendium.

 
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