Veröffentlicht: 11.06.09
Internetportal «SIPOL WEB»

Schweizer Sicherheitspolitik in der Diskussion

Um den Sicherheitspolitischen Bericht 2009 breit abzustützen, fanden in Bern Anhörungen von internationalen Sicherheitsexperten, Politikern und Interessensvertretern statt. Gleichzeitig betrieb und moderierte das «Center for Security Studies» (CSS) der ETH Zürich eine interaktive Web-Plattform, auf welcher die Bevölkerung im Rahmen eines Diskussionsforums zur Stellungnahme eingeladen wurde. Andreas Wenger, Leiter des CSS, fasst die wichtigsten Erkenntnisse des Schlussberichts des «SIPOL WEB» zusammen, der am Donnerstag veröffentlicht wurde, und gibt eine persönliche Einschätzung zur Lage der Schweizer Sicherheitspolitik.

Samuel Schläfli
Andreas Wenger vom «Center for Security Studies» (CSS) der ETH Zürich, das  die interaktive Web-Plattform «SIPOL WEB» betrieb und moderierte. (Bild: ZVg)
Andreas Wenger vom «Center for Security Studies» (CSS) der ETH Zürich, das die interaktive Web-Plattform «SIPOL WEB» betrieb und moderierte. (Bild: ZVg) (Grossbild)

Herr Wenger, es ist das erste Mal, dass die Schweizer Bevölkerung zur Mitarbeit am sicherheitspolitischen Bericht in Form von Kommentaren und Diskussionen über das Internet aufgefordert wurde. Hat sich dieses Vorgehen bewährt?

Durchaus, denn es hat sich in diesem Fall gezeigt, dass es nach wie vor viele Organisationen und Individuen gibt, die an sicherheitspolitischen Fragen interessiert sind. «SIPOL WEB» bot jedem die Gelegenheit, an einer sicherheitspolitischen Sachdebatte teilzunehmen. Das Internet und die neuen Medien können – wenn richtig eingesetzt – eine bereichernde flankierende Massnahme für demokratische Prozesse sein.

Während der dreimonatigen Laufzeit wurden auf der Website 150 Kommentare publiziert. Ist das unter dem Gesichtspunkt, dass sich sämtliche Schweizer Bürger an der Diskussion beteiligen konnten, nicht zu wenig?

Insgesamt zählten wir mehr als 8500 Besucher, 150 haben selber in die Tasten gegriffen. Wir sind mit dem Ergebnis sehr zufrieden, denn wir waren in erster Linie an der Qualität der Beiträge interessiert und nicht an der Zahl. Die auf «SIPOL WEB» eingegangenen Beiträge waren meist lang, sachlich fundiert und bemerkenswert substantiell. Das unterscheidet diese Website von anderen Blogs oder Diskussionsforen. Unsere Erwartungen wurden in dieser Hinsicht sogar übertroffen.

Sie haben über die Website «SIPOL WEB» die Transkripte von über 40 Anhörungen von Sicherheitsexperten, Politikern und Interessengruppen veröffentlicht und die Kommentare dazu moderiert. Wie wahrscheinlich ist heute ein Krieg in der Schweiz nach Ansicht der involvierten Gruppen?

Es besteht ein grosser Konsens darüber, dass ein Krieg in Europa und damit eine direkte militärische Bedrohung der Schweiz auf absehbare Zeit unwahrscheinlich geworden sind – dies unter anderem dank der Erweiterung der EU und der NATO und der Vertiefung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit im unmittelbaren Umfeld der Schweiz. Lediglich einige Gruppierungen am rechten Ende des politischen Spektrums halten einen Krieg an den Schweizer Grenzen nach wie vor für ein bedrohliches Szenario.

Gibt es neue Konfliktherde, die für die Schweiz relevant sind?

Ja, diese liegen vor allem an der europäischen Peripherie im so genannten Krisenbogen, der von Afrika über den Mittleren Osten, den Kaukasus und Zentralasien bis nach Südwestasien reicht. In dieser Zone der Instabilität dominieren innerstaatliche Konflikte, die auf vielschichtige politische, soziale und wirtschaftliche Schwächen zurückzuführen sind. Viele dieser Kriege werden jedoch durch transnationale Gewaltphänomene überlagert, die sich in der Form globaler Sicherheitsrisiken wie Extremismus, organisierter Kriminalität, Terrorismus oder der Proliferation von Massenvernichtungswaffen häufig auch nach aussen wenden. Die Rückwirkungen von geografisch oft weit entfernten Krisenherden stellen in einer globalisierten Welt daher eine der zentralen Herausforderungen für die Sicherheit der europäischen Staaten und damit auch der Schweiz dar.

Was bedeutet das für die Schweizer Sicherheitspolitik?

Eine kohärente Sicherheitsstrategie erfordert auf der politisch-strategischen Ebene eine vermehrte Integration von Verteidigung, innerer Sicherheit und Aussenpolitik. Weil das Regierungssystem der Schweiz stark durch die einzelnen Departemente geprägt wird, ist hier der Bundesrat ganz besonders gefordert. Auf der Ebene der Politikumsetzung ist Kooperation gefragt – und zwar sowohl Kooperation nach aussen mit anderen Staaten und internationalen Organisationen als auch Kooperation nach innen zwischen den verschiedenen zivilen und militärischen Instrumenten des Bundes und der Kantone. An der im letzten Sicherheitspolitischen Bericht verankerten Grundstrategie «Sicherheit durch Kooperation» wollen praktisch alle Involvierten festhalten. Weder ein Alleingang der Schweiz noch die Integration in ein Bündnis, wie zum Beispiel die NATO, werden als Alternative wahrgenommen oder gar befürwortet.

In welcher Form sollen solche Kooperationen nach Ansicht der Experten stattfinden?

Das ist weiterhin sehr umstritten. In der Debatte auf dem Internet und in den Hearings wurde vor allem die Ausgestaltung der Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen respektive zwischen Armee und Polizei diskutiert. Dabei stand insbesondere die Frage im Vordergrund, wie aufgrund der veränderten Lage die sicherheitspolizeiliche Lücke, mit welcher wir heute in der Schweiz konfrontiert sind, geschlossen werden kann. Die Experten sind sich zwar mehrheitlich einig, dass es angesichts der aktuellen Gefährdungslage eine Polizeireserve braucht. Umstritten bleibt aber, ob eine solche Reserve auf Bundesebene oder auf der Ebene der Kantone etabliert wird und wer diese finanzieren soll.

Einzelne Stimmen fordern, dass die Milizarmee für solche Zwecke eingesetzt wird. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Die Milizformationen der Armee sind wenig geeignet, um die Rolle der polizeilichen Reserve zu übernehmen. Sie bleiben wichtig für die subsidiäre Unterstützung der zivilen Behörden. Die Profiorganisation der militärischen Sicherheit könnte jedoch durchaus als Kern für die Schaffung einer Polizeireserve des Bundes dienen. Wenn gleichzeitig dazu die kantonalen Polizeikorps weiter aufgestockt werden, dann erscheint dies ein gangbarer Weg zur Schliessung der Lücke im sicherheitspolizeilichen Bereich.

Wie soll die internationale Kooperation ausgestaltet werden? Haben sich die Experten und Kommentatoren dazu geäussert?

Im Bereich der Polizei wird die internationale Zusammenarbeit als etwas Alltägliches wahrgenommen, sie ist weitgehend unbestritten. Im Rahmen von Schengen und Dublin hat die Schweiz die Sicherheits-, Visums- und Asylzusammenarbeit mit der EU stark intensiviert. Sehr kontrovers beurteilt werden dagegen die militärischen Auslandeinsätze. Es gibt Stimmen, die einen markanten Ausbau fordern, andere wiederum wollen den totalen Verzicht. Es besteht ein klares Ungleichgewicht zwischen den ambitionierten zivilen und den nur sehr bescheidenen militärischen Friedensförderungsbeiträgen der Schweiz.

In der Europäischen Union kooperieren EU-Mitglieder auch im verteidigungspolitischen Bereich immer stärker, unter anderem über die «European Defence Agency». Ist die Schweizer Armee in diesem Umfeld überhaupt noch konkurrenzfähig?

Österreich beispielsweise richtet seine Sicherheits- und Verteidigungspolitik beinahe vollständig auf die Europäische Union aus. Auch für die Schweiz könnte – auch ohne EU-Mitgliedschaft – eine verstärkte sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperation innerhalb Europas durchaus attraktiv sein, schon alleine aus Effizienzgründen, zum Beispiel bei den Rüstungsanschaffungen. Ein Kleinstaat kann heute nicht mehr das Gesamtspektrum an militärischen Leistungen unterhalten, dafür ist der technologische Fortschritt viel zu rasant, die Kosten sind zu hoch. Wir müssen die Weiterentwicklung der Armee als strategische Reserve vermehrt in einem europäischen Umfeld denken. Darin ist sich die Politik allerdings nicht einig.

Andreas Wenger ist seit 2003 ausserordentlicher Professor für internationale und schweizerische Sicherheitspolitik der ETH Zürich. Er leitet seit 2002 das Center for Security Studies (CSS).

«SIPOL WEB»
Die Rolle der Armee wird in der Schweiz innenpolitisch seit Jahren kontrovers diskutiert. Die sicherheitspolitische Strategie der Schweiz wird deshalb derzeit einer Überprüfung unterzogen. Bis zum Jahresende 2009 will der Bundesrat einen neuen Sicherheitspolitische Bericht erarbeiten. In diesem Zusammenhang fanden zwischen dem 27. Februar und dem 24. April 2009 Hearings statt. Eingeladen waren die politischen Parteien, Interessengruppen, Vertreter von Kanton, Polizei und Bevölkerungsschutz, wissenschaftliche Institute sowie Einzelexperten aus dem In- und Ausland. Insgesamt fanden 45 Anhörungen statt. Ergänzend dazu erhielt das Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich vom VBS den Auftrag, eine interaktive Web-Plattform zu betreiben, die der Bevölkerung die Transkriptionen der Stellungnahmen zugänglich machen sollen. Über die dreisprachige Plattform «SIPOL WEB», die vom CSS moderiert wurde, konnte Bevölkerung vom 18. März bis 5. Juni aktiv an der sicherheitspolitischen Debatte teilnehmen, indem sie die Transkriptionen der Hearings kommentieren und im Diskussionsforum zu aktuellen Fragen der Schweizer Sicherheitspolitik Stellung nehmen konnten. Insgesamt haben über 8500 Personen die Web-Plattform besucht. Davon haben sich 300 regelmässig via E-Mail-Benachrichtigungsdienst oder Twitter über verfügbare neue Stellungnahmen informieren lassen. Insgesamt liessen sich während der Moderationsphase etwa 8100 Zugriffe auf Stellungnahmen oder andere Dokumente auf «SIPOL WEB» registrieren. Grösste Beachtung fanden dabei wie erwartet die Stellungnahmen der Vertreter der jeweiligen Pole des politischen Spektrums, insbesondere der SVP und der SP. Auch die Stellungnahmen der GSoA, der AUNS und Pro Militia wurden überdurchschnittlich oft gelesen. Am Donnerstag wurde der Schlussbericht des CSS zu «SIPOL WEB» veröffentlicht. Die Plattform wird mindestens noch bis zur Veröffentlichung des Sicherheitspolitischen Berichts online verfügbar bleiben, wobei seit dem Ende der Moderationsphase keine Möglichkeit zur Kommentierung mehr besteht.

 
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