Veröffentlicht: 29.05.08
Verkehrssimulation

Ein mikroskopisches Verkehrsverständnis

Mit dem agentenbasierten Simulationsprogramm „MATSim“ können Verkehrsflüsse aufgrund individueller Entscheidungen der Verkehrsteilnehmer nachgestellt werden. Anwendung findet ein solches System zum Beispiel bei der Westumfahrung Zürich, wie Michael Balmer an einem IVT-Seminar erläuterte.

Samuel Schläfli
Lassen sich simulieren: ''Agenten'' unterwegs auf der Autobahn nach Zürich (Bild: www.flickr.com)
Lassen sich simulieren: ''Agenten'' unterwegs auf der Autobahn nach Zürich (Bild: www.flickr.com) (Grossbild)

Verkehr ist nichts anderes, als das Zusammentreffen von tausenden von individuellen Entscheidungen darüber, wie der Reisende am schnellsten von A nach B gelangt. Folgerichtig wird der Verkehr nicht von Fahrzeugen verursacht, sondern von mobilitätsbedürftigen Personen; den „Agenten“, wie diese in der Verkehrssimulation genannt werden. Agentenbasierte, mikroskopische Simulationen orientieren sich deshalb an den individuellen Entscheidungsprozessen der Verkehrsteilnehmer und nicht an den beobachteten Verkehrsflüssen oder Streckenbelastungen.

Wissenschaftler des Instituts für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT) der ETH Zürich haben zusammen mit Kollegen der TU Berlin ein solches agentenbasiertes Simulationsprogramm entwickelt, die „Multi-Agent Transport Simulation“ (MATSim). „Unser System kombiniert statistische Daten der Volkszählung mit solchen aus der Verkehrserhebung. Das ermöglicht uns eine Simulation, welche die individuellen Aktivitätspläne der Verkehrsteilnehmer zu einer bestimmten Tageszeit berücksichtigt“, sagt Michael Balmer. Er ist Teil der IVT-Forschungsgruppe Verkehrsplanung unter Professor Kay W. Axhausen und Projektleiter für die Softwareentwicklung der "MATSim".

Agenten "lernen" menschliches Verkehrsverhalten

Im Rahmen der Heureka 08 nutzte das IVT die "MATSim" erstmals um den Gesamtverkehr der Schweiz während eines gesamten Tages zu simulieren. Zum Modellieren des individuellen Mobilitätsverhaltens der Schweizer Bevölkerung wurden die Daten der schweizerischen Volks- und Betriebszählung aus dem Jahr 2000 beigezogen. Aufgrund von Angaben wie Wohnort, Alter, Geschlecht, Arbeitsverhältnis, Fahrerlaubnis, tägliche Aktivitäten und Besitz eines ÖV-Zeitabonnements konnte jedem der 7.3 Millionen Agenten der Computersimulation – entsprechend der statistischen Verteilung der schweizerischen Gesamtbevölkerung – ein eigenes Mobilitätsprofil verliehen werden. "Dadurch können wir während der Simulation bei jedem einzelnen Agenten seinen aktuellen Standort und seine derzeitige Aktivität bestimmen", erklärt Balmer.

Im Gegensatz zu herkömmlichen Simulationen optimieren die Agenten bei der "MATSim" ihr Verkehrsverhalten während der Simulation ständig. Durch einen koevolutionären Prozess sucht jeder einzelne Agent die für ihn jeweils beste Entscheidung. Das IVT hat dazu mit Professor Kai Nagel von der TU Berlin einen Algorithmus entwickelt, der Wechselwirkungen zwischen den Entscheidungen der Agenten und den Umweltverhältnissen erlaubt. Für jeden Agenten werden fortlaufend sämtliche Möglichkeiten um von A nach B zu gelangen berechnet, wobei die zeitintensiveren Varianten kontinuierlich ausscheiden. Das Gleichgewicht und damit das Ende der Simulation sind dann erreicht, wenn sämtliche Agenten zu ihrem optimalem Verkehrsverhalten gefunden haben. So "lernen" die Agenten zum Beispiel, dass auf einem bestimmten Strassenabschnitt zu gegebener Zeit immer Stau herrscht, was sie zu einer anderen Routenwahl in Zukunft veranlasst. Vorbild für dieses rein mathematische Optimierungsverfahren sind die menschlichen Lernprozesse im Alltagsverkehr.

Erkenntnisse zur Westumfahrung bestätigt und ergänzt

Am IVT-Seminar vom vergangenen Donnerstag hat Balmer in einem Vortrag die aktuellste Anwendung der "MATSim" für die Westumfahrung Zürich vorgestellt. Mit der Umfahrung soll der Ost-West-Durchgangsverkehr neu um die Stadt Zürich geführt und damit die Innenstadt entlastet werden. Im Mai 2009 werden die jahrzehntelangen Planungs- und Bauarbeiten des riesigen Strassen-Infrastrukturprojekts voraussichtlich abgeschlossen. Das IVT erhielt vom Kanton Zürich einen Auftrag zur Simulation der Auswirkungen der geplanten flankierenden Massnahmen auf den Verkehr in und um Zürich. Die früheren, vom Kanton getätigten Meso- und Makrosimulationen sollten dadurch mit einer Mikrosimulation durch die "MATSim" überprüft werden. "Wir konnten die Erkenntnisse aus den früheren Simulationen bestätigen und durch detailliertere Informationen noch ergänzen", so Balmer.

So konnte erstmals eruiert werden, wer von bestimmten flankierenden Massnahmen, wie zum Beispiel der Schliessung von zentralen Strassenabschnitten, in Bezug auf veränderte Reisezeiten profitieren wird. „Indem wir das Verhalten jedes einzelnen Agenten verfolgen, können wir geographisch verortete Gruppen bilden und deren verändertes Mobilitätsverhalten genau analysieren. Daraus hervorgehend können wir sogar die Gesamtpopulation in einem demokratischen Prozess über eine bestimmte Verkehrsmassnahme abstimmen lassen", erläutert Balmer eine zusätzliche Funktion der "MATSim". Eine reale politische Entscheidungsfindung sei damit aber nur bedingt antizipierbar, schliesslich handle es sich noch immer nur um eine rechnerbasierte Simulation.

Baukastensystem

Bereits haben auch Forschungsbereiche fern der Verkehrsplanung Interesse an der "MATSim" bekundet. So arbeitet Balmers Team momentan im Rahmen eines Nationalfonds-Projekts zum Erarbeiten von Strategien gegen Grippeepidemien mit Professor Roland Scholz vom Institut für Umweltentscheidungen zusammen. Mit der "MATSim" kann in diesem Zusammenhang genau berechnet werden, wann welche Personen wo zusammen treffen und wie sich die Epidemie dadurch ausbreiten könnte. Balmer ist überzeugt von der Vielseitigkeit des Systems: "Da wir mit der MATSim nicht das Verkehrsaufkommen berechnen, sondern das Mobilitätsverhalten von einzelnen Personen, können mit dem System sehr unterschiedliche wissenschaftliche Fragen beantwortet werden."

Dementsprechend ist die "MATSim" auch als Open Source-Software angelegt, die jedermann lizenzfrei benutzen und weiterentwickeln darf. "Wir haben einen Baukasten geschaffen, der ständig mit neuen Funktionen ergänzt werden kann und damit hoffentlich in möglichst vielen Forschungsgebieten zur Anwendung kommt", erklärt Balmer.

 
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