«Statistik hilft, mit dem Zufall umzugehen»
2013 ist das Internationale Jahr der Statistik. ETH Life unterhielt sich mit Hans-Rudolf Künsch, Professor am Seminar für Statistik, über Geschichte und Gegenwart seines Fachgebiets und darüber, wo überall Statistik drinsteckt, wenn man es gar nicht erwarten würde.
«Ich
traue keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe.» Dieses Zitat wird
Winston Churchill in den Mund gelegt. Kann man Ihrer Meinung nach Statistiken
trauen?
Sie sprechen das Missbrauchspotenzial von
Statistiken an. Natürlich kann man auch mit zweifelhaften oder gar erfundenen
Daten Statistik betreiben. Und mit tendenziösen grafischen Darstellungen kann
man etwas suggerieren, was nicht den Tatsachen entspricht. An einem solchen
Missbrauch ist allerdings nicht die Statistik schuld, sondern die Leute, die
ihn treiben. Mit einem gewissen Fachwissen sind Missbräuche aber häufig zu
entlarven. Auch in der Schule sollte daher ein Grundverständnis über Statistik
vermittelt werden.
Was
möchte man mit dem Internationalen Jahr der Statistik 2013 erreichen?
Viele Statistiker sind der Meinung, das öffentliche
Bild ihres Fachgebiets sei etwas schief, mitunter negativ. Das möchten wir
korrigieren. Missbräuche der Statistik sind dabei aber nur ein Aspekt.
Die
Statistik wird manchmal als trockenes Fach, als Zahlenbeigerei wahrgenommen. Ist
auch das ein Aspekt?
Ja. Viele Leute meinen, Statistik sei gleichzusetzen
mit der Arbeit des Bundesamts für Statistik, und sie bestehe aus nichts anderem
als dem Zählen von Apfelbäumen und Kühen in der Schweiz. Dieses Bild ist
falsch. Statistik ist eine vielfältige Wissenschaft, die Methoden entwickelt,
um aus zufällig schwankenden Daten Schlüsse zu ziehen.
Inwiefern
ist die Statistik vielfältig?
Sie hat ihren Ursprung in der Mathematik, greift
aber in viele Bereiche der modernen Wissenschaften über. Grosse Teile der Biologie,
der Medizin, der Ingenieurwissenschaften und der Umweltforschung wären heute
ohne Statistik undenkbar. Der Chefökonom von Google, Hal Varian, sagte vor vier
Jahren: Der sexyeste Beruf des kommenden Jahrzehnts ist der des Statistikers.
Sind Sie mit Herrn Varian einig?
Auch
für mich ist die Statistik ein enorm faszinierendes Gebiet, das mir grossen
Spass macht. Statistik hat für mich viel mit Detektivarbeit zu tun: Es gilt,
Zusammenhänge zu erkennen, die nicht offensichtlich sind.
Und warum soll Statistik gerade heute so attraktiv
sein?
Gegenüber
früher stehen uns heute viel mehr Daten zur Verfügung. Wir sprechen von Big
Data, den grossen Datenmengen, die heute jeden Tag, ja jede Sekunde anfallen.
Mithilfe der Statistik kann man aus diesen Daten interessantes Wissen
extrahieren. Allerdings bedürfen diese grossen Datenmengen neuer statistischer
Methoden. Das ist derzeit ein sehr aktives Forschungsfeld in der Statistik.
Worum geht es dabei?
Unter
dem Stichwort «High-dimensional statistics» geht es beispielsweise um
statistische Berechnungen mit einer sehr hohen Zahl an Variablen,
typischerweise einer viel grösseren Zahl als jene der sogenannten
Versuchseinheiten. In der Genetik stellen sich solche Fragen, etwa wenn man die
Aktivitäten von mehreren tausend Genen bei einer begrenzten Anzahl von nur etwa
hundert Patienten auswerten möchte.
Wir sind hier im Bereich der Life Sciences.
Sie erwähnten vorher auch die Ingenieurswissenschaften. Wo steckt dort
Statistik drin?
Ein
typisches Beispiel, das vielen Leuten gar nicht bekannt sein dürfte:
Spracherkennungsprogramme oder Programme, mit denen Roboter visuell ihre Umwelt
erkennen können – Stichwort «Machine Learning» –, funktionieren nur mit
Statistik. Auch da geht es um den Umgang mit Unsicherheiten und Variabilität.
Eine Silbe oder ein Wort wird von jeder Person leicht anders ausgesprochen. Ein
gutes System muss trotz diesen Variationen ein Wort oder einen Text erkennen
können. Und ein Roboter wird kaum zweimal die genau gleiche Situation
antreffen. Trotzdem muss er entscheiden können, ob eine angetroffene Situation
einer gespeicherten Standardsituation ähnlich ist.
Der Anlass für das Jahr der Statistik gab offenbar
ein berühmter Schweizer Mathematiker.
Ja, vor
300 Jahren wurde ein wichtiges Werk des Baslers Jakob Bernoulli veröffentlicht:
Ars Conjectandi. Mit diesem Buch hat er die Wahrscheinlichkeitsrechnung und
Statistik als mathematische Disziplin etabliert. Bernoulli untersuchte zunächst
vor allem Glücksspiele wie das Würfeln. Er hat als erster das sogenannte Gesetz
der grossen Zahlen bewiesen. Es besagt: Wenn man eine genügend grosse Zahl von
wiederholten Beobachtungen macht, nähert sich die relative Häufigkeit eines
Zufallsergebnisses seiner unbekannten Wahrscheinlichkeit beliebig genau an.
Ars Conjectandi – die Kunst der Vermutung
oder Mutmassungen. Ist die Statistik die Wissenschaft der Mutmassungen?
Die
Statistik muss als Wissenschaft mit den existierenden Unsicherheiten umgehen. Wegbringen
kann sie sie nicht. Die Idee war damals, die Unsicherheiten zu quantifizieren,
den Zufall zu mathematisieren. Auch heute geht es in der Statistik genau darum.
Was wünschen Sie sich 300 Jahre nach
Bernoulli vom Jahr der Statistik?
Ich
hoffe, es gelingt uns Statistikern, den Leuten zu zeigen, dass Statistik ein
interessantes und wichtiges Gebiet ist. Der Zufall ist ja etwas, was viele
Leute beschäftigt. Das Leben birgt viele Zufälle. Allerdings verhält es sich
mit ihnen nicht immer so, wie man denkt oder wie man sie intuitiv beurteilt. Man
ist häufig über Dinge erstaunt, die sich, wenn man sie genauer analysiert, als
gar nicht so selten herausstellen. Dank der Statistik kann man besser mit dem
Zufall umgehen.
Zur Person
Hans-Rudolf
Künsch (61) ist Professor am Seminar für Statistik, einem Institut des
Departements Mathematik. Einer seiner Forschungsschwerpunkte liegt auf dem
Zusammenspiel von deterministischen und stochastischen Modellen. Damit sind
Prozesse gemeint, die im Prinzip exakt vorhersagbar sind, bei denen aber trotzdem
grosse Unsicherheiten bestehen, weil man die benötigten Anfangsbedingungen und
Parameter zu wenig genau kennt. Ein
Beispiel dafür sind Kurzzeitprognosen des Niederschlags, wo physikalische
Modelle Punktvorhersagen liefern, aus denen man mit statistischen Methoden
realistische Vorhersagebereiche ableiten
kann. Ein anderes Beispiel sind Klimamodelle: Hier ist das Ziel, mit Hilfe der
Statistik aus den unterschiedlichen
Vorhersagen verschiedener Modelle eine adäquate Beschreibung der Unsicherheiten zu
erhalten.
Das
Internationale Jahr der Statistik wird in der
Schweiz im Oktober 2013 mit einem internationalen Fachkongress zu Ehren Jakob
Bernouillis Buch «Ars Conjectandi» begangen: www.statoo.ch/bernoulli13
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