Veröffentlicht: 23.01.13
Kolumne

Den Wald auf eigene Faust durchforsten

Sebastian Grandis
Sebastian Grandis, Physikstudent an der ETH Zürich. (Bild: Sonja Mulitze)
Sebastian Grandis, Physikstudent an der ETH Zürich. (Bild: Sonja Mulitze) (Grossbild)

Als Student erscheint einem das Mathematik- oder Physikstudium oft wie ein dunkler Wald, den man zu durchqueren hat. Die meisten Fächer sind wie ein langer, breitgetrampelter Weg. Die Professoren und Assistenten nehmen einen an die Hand und führen einen auf anstrengenden Tagesmärschen durch den Wald. Mit wohlstrukturierten, begriffsgetränkten Vorlesungen. Mit Bergen von Übungen, die prallvoll gefüllt mit Tipps sind. Läuft der Student brav mit, so kommt er sicher durch den Wald. Er hat das Gefühl, den rechten Weg gelaufen zu sein. Er ist zurecht stolz, dass er durchgekommen ist.

Dass es auch andere Methoden gibt, die Studenten durch den Wald zu lotsen, haben wir in diesem Semester erlebt. Ein Professor hielt seine Vorlesung ohne Tafelbild. Stattdessen projizierte er eine Sammlung von Aufgaben und kommentierte deren Bedeutung. Er stellte uns die Aufgaben als Skript zur Verfügung und forderte uns auf, sie zu lösen. Sie beinhalteten die gesamte Theorie. Zum Selbstaufbauen. Wie bei Ikea. Die Übungsaufgaben waren länger und härter als in den anderen Fächern. Auch sie stammten aus dem Skript.

Es war - um bei der Waldmetapher zu bleiben - als hätte man uns eine Karte des Waldes in die Hand gedrückt, dann wurden wir am Waldrand stehen gelassen und mit den Worten verabschiedet: «Wir erwarten Euch auf der anderen Seite.»

Nach den Studentenumfragen zu urteilen, die der Fachverein der Mathematik- und Physikstudierenden VMP regelmässig durchführt, goutierte die Mehrheit der Studierenden dieses Vorgehen gar nicht. Als einer der Semestersprecher erhielt ich Mails, die sogar die Absetzung der Vorlesung verlangten.

Infolge der Unzufriedenheit leerte sich der Hörsaal zunehmend. Die meisten Studenten schienen gar nicht erst in den Wald gehen zu wollen, vielleicht fürchteten sie, sich zu verlieren. Die Wenigen, die in den Wald gingen, waren überrascht, wie genau die Karte war. Die Theorie liess sich selbst aufstellen und die Hinweise des Professors lieferten die entscheidenden Bausteine.

Es war ein vollkommen neues Lerngefühl, das qualitativ intensiver und viel erfreulicher war, als wenn einem das Wissen einfach eingetrichtert wird. Man hatte das Fach nicht erzählt bekommen, sondern es am eigenen Leib erfahren.

Der grösste Makel dieser Methode ist jedoch, dass sie keine begriffliche Struktur vermittelt. Sie ist zur Aneignung der Materie exzellent, zum Aufbau von Grundlagen aber nicht ausreichend. Hier ist klare Führung von Seiten der Professoren und der Assistenten nötig, wie das in anderen Fächern der Fall ist.

Eine unkonventionelle Lehrmethode ist insofern für die ersten Semester des Bachelors schwierig - hierin stimme ich der Mehrheit meiner Kommilitonen zu. Sie vermittelt aber eine sehr wichtige Kompetenz: Erst der Stoff, den man eigenständig erarbeitet hat, ermöglicht eine konstruktive Kritik an ihm. Durch einfaches Rezitieren entsteht kein Fortschritt, sondern Dogmatik. Was in jeder Wissenschaft vollkommen unerwünscht ist.

Deshalb hat diese Methode - neben den konventionellen - ihre Berechtigung und ihren Nutzen. Wir Studenten täten gut daran, uns vor dem Unkonventionellen nicht zu fürchten, sondern von ihm zu profitieren.

Zum Autor

Sebastian Grandis kam am 4. Mai 1994 in Rom zur Welt. In der Hauptstadt Italiens verbrachte er auch seine frühe Kindheit und besuchte dort bis zum achten Schuljahr die deutsche Schule. Mit seiner Mutter zog er 2007 in die Schweiz. Seine Schulzeit schloss er 2011 am Mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium Rämibühl in Zürich ab. Seit September 2011 studiert Grandis Physik an der ETH: «Eine akademische Stelle in theoretischer Physik wäre mein absoluter Traumjob», sagt der Student im Hinblick auf seine Laufbahnziele. Neben dem Studium engagiert er sich auch als Redaktor bei «VAMP», der Zeitschrift des Vereins der Mathematik- und Physikstudierenden an der ETH Zürich. Sonst widmet er seine Freizeit seinem Hobby Wasserball – und zwar in verschiedenen Funktionen als Jugendtrainer, als Spieler und als Schiedsrichter.