Caracas ist überall
Ein Jahr lang haben die Architekturprofessoren Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner mit ihren Teams eine Anwohnergemeinschaft in einem besetzten Hochhaus in Caracas beobachtet und nach Wegen gesucht, die Situation in der Bauruine zu verbessern. Jetzt ist ein Buch über das ungewöhnliche Projekt erschienen.
Torre David ist mit 45 Stockwerken das dritthöchste Gebäude
Venezuelas und 9 Stockwerke höher als das höchste Hochhaus der Schweiz, der
Prime Tower in Zürich. Der Hochbaukomplex ist eine Bauruine, ein lange Zeit
toter Riese mitten in der Stadt Caracas. Er wurde aufgrund der Wirtschaftskrise
in den 90er Jahren nie wirklich fertiggestellt. Heute ist die Bauruine
improvisierte Heimat von mehr als 750 Familien, die sich hier seit 2007 niedergelassen
haben. Sie leben in diesem unvollendeten Rohbau ohne Fahrstühle und Fassaden.
Dennoch ist der Turm inzwischen bis zum 28. Stockwerk besiedelt - Stockwerke, die
nur über wenige, ungesicherte Treppenhäuser erreichbar sind. Für alle Bewohner ist
dies eine tägliche Herausforderung, für manche, wie etwa die damals 82-jährige
Frau, die 2007 mit ihrer Familie im 20. Stock eine Bleibe fand, ein unüberwindbares
Hindernis.
Herausforderung an die Planer und Architekten
Den rund 3000 Menschen, die heute den Torre David besiedeln,
ist es mit viel Improvisationsgeschick und Gemeinschaftssinn dennoch gelungen,
Überlebens- und Lebensmöglichkeiten in diesem Moloch zu gestalten, Wasser und
Elektrizität zu organisieren und selbst kleine Läden, Werkstätten und
Dienstleistungen zu schaffen. Wie dies unter derart prekären Bedingungen
möglich ist, haben Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner mit ihren Teams vom
Lehrstuhl Urban Think Tank an der ETH Zürich und weiteren Partnern untersucht
und in ihrem soeben erschienen Buch dargestellt.
Was für manche einfach ein vertikaler Slum ist, ist für sie ein Laboratorium, an dem sich etwas über die Kraft informeller Organisationsformen lernen lässt – und eine Herausforderung an die Architektur. Wenn heute etwa eine Milliarde Menschen in Slums leben, eine Zahl, die sich bis 2030 nach Schätzungen der UNO verdoppeln könnte, dann, so ihre Argumentation, dürfen Architekten und Städteplaner dies nicht ignorieren, sondern müssen sich damit auseinandersetzen. Doch die Autoren gehen noch weiter. Vielleicht, so argumentieren sie, lassen sich gerade in diesen prekären, informellen Umgebungen Potenziale für Experimente und Innovationen finden, die helfen, die Zukunft nachhaltiger zu gestalten.
Prekäre Existenz und Heimat
Ob man den Autoren nach der Lektüre des Buches so weit folgen
wird, sei dahingestellt. Den teilweise atemberaubenden Fotografien des
bekannten Architekturfotografen Iwan Baan und des ETH-Mitarbeiters Daniel
Schwartz, die einen wesentlichen Teil des Buches ausmachen, gelingt es
jedenfalls, den Bewohnern des Torre David ihre Würde zu lassen. Gleichzeitig vermitteln sie dem Betrachter etwas
von der Spannung zwischen Baumonster und prekärer menschlicher Existenz, von
Improvisation und Ordnungsversuchen der Bewohner, von Ausgesetztheit und Heimat
und sogar Normalität unter extremen Bedingungen. Erhellend sind
die Analysen der Architekten, die in klaren Plänen und Skizzen die «technische»
Funktionsweise dieser vertikalen Siedlung erst verständlich machen. Denn wie
man sich in einem Hochbauskelett wie dem Torre David mit dem
Lebensnotwendigsten, Wasser und Strom etwa, versorgen kann, ist für Leser aus
hiesigen Breitengeraden kaum vorstellbar.
Begleitet werden sie von Kapiteln, die die Geschichte des Torre David auch in historischen und soziologischen Aspekten betrachten, und ohne die das Phänomen, wie diese Squattergemeinschaft funktioniert, unverständlich bliebe. Und schliesslich entwickeln die Autoren gemeinsam mit Arno Schlüter, Professor am Institut für Technologie in der Architektur, und Doktorand Jimeno Fonseca Vorschläge, wie die Lebenssituation der Bewohner verbessert werden kann. Im Mittelpunkt steht dabei die nachhaltige Wasser- und Energieversorgung, aber auch die bessere Erschliessung der Stockwerke. Der Leser darf hier mit ebenso ungewöhnlichen wie faszinierenden Vorschlägen rechnen, etwa der Idee, die Energieversorgung durch zahlreiche Windräder an der Gebäudefassade zu unterstützen.
Produktive Fragen
Manches hätte man als Leser gerne noch genauer erfahren, beispielsweise wie die Bewohner ihren Lebensunterhalt bestreiten, ob und wo Kinder in die Schule gehen und vieles mehr. Wohl wurden die Architekten in ihrem Bemühen, den Torre David zu verstehen, auch zu Soziologen, aber die Perspektive der Architekten und Planer bleibt führend.
Diese wird aber dadurch produktiv aufgebrochen, dass die
Autoren vieles auch immer wieder hinterfragen: «Was ist das hier eigentlich?»
Denn der Torre David und seine Bewohner lassen sich
nicht leicht in gewohnten Kategorien messen. Was ist ein Slum? Welche Bedingungen sind notwendig, um ein
Hochhaus bewohnbar zu machen? Wie entsteht ein funktionierendes Gemeinwesen?
Wieviel Energie ist notwendig? Das Beispiel des Torre David ist ein Extremfall
– und ist uns zugleich nicht völlig fremd. Caracas ist in gewisser Weise
überall.
Das in Englisch erschienene Buch wird von der Financial Times zu den besten Büchern des Jahres 2012 gezählt. Die Ausstellung zum Projekt Torre David wurde an der diesjährigen Architektur-Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.
Das Buch
Torre David. Informal Vertical Communities. Herausgegeben von Alfredo Brillembourg und Hubert
Klumpner, Urban-Think Tank Lehrstuhl für Architektur und Städtebau, ETH Zürich. Fotografien von Iwan Baan. Lars Müller Publishers, 2012. ISBN978-3-03778-298-9, Englisch, EUR 45,00 / CHF 55,00
Das Buch Torre David kann in der
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