Veröffentlicht: 13.09.12
Science

Future-Cities-Lab-Forscher plädieren für Diversität

An der zweiten Konferenz des Future Cities Lab, die in Zürich stattfand, diskutierten Forscher der ETH und aus Singapur mit internationalen Experten Konzepte, wie sich die Städte der Zukunft nachhaltig entwickeln können. Einer dieser Ansätze lautet: Diversität. Im Singapurer Stadtteil Rochor beispielsweise entdecken die Forscher mögliche Modelle.

Martina Märki
Blick auf die Einwanderungsstadt Singapur und den Stadtteil Rochor, in dem noch vielfältige und kleinteilige Strukturen zu finden sind.
Blick auf die Einwanderungsstadt Singapur und den Stadtteil Rochor, in dem noch vielfältige und kleinteilige Strukturen zu finden sind. (Grossbild)

Singapur präsentiert sich dem Besucher aus dem Westen auf den ersten Blick als atemberaubende Kulisse aus Hochbauten und staatlichem Ordnungssinn. Was dem westlichen Besucher ungewöhnlich erscheint, ist für Singapurer Alltag: Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung lebt in Hochhaussiedlungen.

Seit den Siebzigerjahren schaffen Singapurs Behörden mit beispielloser Energie Wohnraum für eine schnell wachsende Bevölkerung auf begrenztem Raum. Denn Singapurs Wirtschaftswunder ist auch damit gekoppelt, dass viele Immigranten dort ihr Glück suchen. Standen in den ersten Phasen des Bau-Booms vor allem quantitative und soziale Gesichtspunkte im Mittelpunkt, wird heute auch nach Möglichkeiten gesucht, auch Natur und Umwelt zu integrieren. Doch der rasche Transformationsprozess hat seinen Preis. Die Hochbaukomplexe schaffen für westliche Augen teilweise erschreckend einheitliche, wenig diversifizierte Lebensumwelten. Und sie verdrängen urbane Bau- und Lebensformen, die auf durchmischten Nutzungen und einer Vielfalt von Gebäudetypen beruhen. Eines der wenigen Stadtgebiete, in der solche Vielfalt noch zu finden ist, ist der Stadtteil Rochor im nördlichen Teil des Stadtzentrums. Und genau an diesem Stadtteil scheiden sich die Geister.

Diversität als Wert

Singapur ist stolz darauf, zu den wohlhabendsten Wirtschaftszentren der Welt zu gehören. Doch Singapur ist nicht nur das Banken- und Handelszentrum Südost-Asiens, sondern auch ein Ort, indem Hunderttausende ihr Glück im Kleingewerbe suchen. Gerade im Stadtteil Rochor und in Little India finden viele der ärmeren Einwanderer Singapurs Zuflucht. Kleinstläden, Werkstätten und improvisierte Restaurants prägen das Bild. Möglich ist dies vor allem auch, weil hier noch kleinteilige, ältere Bausubstanz und billiger Wohnraum zu finden ist.

Für Kees Christiaanse, Programmleiter des Future Cities Lab, und seine Mitarbeiter liegt hier ein interessantes Forschungsgebiet, das auch positive Modelle für zukünftige Stadtentwicklung liefern könnte. Seine Argumentation: «Nicht nur arme Einwanderer, auch eine moderne Gesellschaft braucht komplexe, für gemischte Nutzungen offene Stadtlandschaften, um mikroökonomische Aktivitäten zu ermöglichen. In solchen Umgebungen entstehen die eigentlichen Innovationsherde einer Gesellschaft.» Auch manche Hochhauskomplexe aus den frühen Jahren, obwohl baulich veraltet, können nach Erkenntnissen der Forscher solchen Kriterien entsprechen, wie etwa der Golden-Mile-Komplex, ein älterer Hochhauskomplex, der heute praktisch vollständig von Thailändern bewohnt und vielfältig bewirtschaftet wird.

Diese Sichtweise ist für Singapurer Stadtplaner gewöhnungsbedürftig. Nicht wenige unter ihnen sehen in solchen Strukturen vielmehr letzte Reste von Armut und Ungeregeltheit, die es möglichst zu überwinden gilt. Der Golden-Mile-Komplex etwa gleicht in ihren Augen eher einem vertikalen Slum. Eine Bauweise, die nicht modernen Standards entspricht, ohne Aircondition und ohne maximale Ausnutzung der erlaubten Dichte, dazu niedrige Mieten, all das senkt zudem die Rendite.

Rasante Transformationsprozesse

Die von den Forschern des Future Cities Laboratory in Rochor entdeckte Formen- und Nutzungsvielfalt ist deshalb auch akut bedroht. Nicht nur sind neu entstehende Kunstgalerien oder Restaurants deutliche Anzeichen einer einsetzenden Gentrifizierung. Die Forscher des Future Cities Lab haben auch eindrückliche Daten über die gewaltigen Veränderungen gesammelt, die in den letzten 30 Jahren stattgefunden haben.

Iris Belle, Mitarbeiterin am Future Cities Lab und am Institut für Denkmalpflege der ETH Zürich, untersucht, wie sich die Bausubstanz von Singapur historisch verändert hat. Der Stadteil Rochor ist dabei eines ihrer Testgebiete. Ihr Fazit der bisherigen Untersuchungen: «Kleinteilige Strukturen wurden in grossem Ausmass und in grosser Geschwindigkeit durch grossmassstäbliche Baukörper abgelöst.» Die Forscherin sieht darin nicht nur das Problem, dass kulturelles Erbe verschwindet und Identifikationsmöglichkeiten, kurz soziales Kapital verloren gehen. Die Zerstörung und der Ersatz von vorhandener Bausubstanz hat auch riesige Materialflüsse und Ressourcenverschwendung zur Folge, da Baumaterialien in grossen Mengen importiert und transportiert werden müssen.

Daten erfassen, Alternativen entwickeln

Für ihre Untersuchungen hat die Forscherin historisches Bild- und Kartenmaterial sowie Gebäudedaten und statistische Daten aus mehreren Jahrzehnten in einer GIS-Datenbank erfasst und analysiert. Aktuelle Daten aus der Analyse von Google Streetview erlauben sogar die Verfolgung punktueller Änderungen in neuester Zeit. Die von ihr erhobenen Daten und viele andere fliessen ein in eine gross angelegte urbane Datenbank und Simulations- und Visualisierungsplattform.

Ziel dieser Plattform ist die Wissensintegration der Forscher am Future Cities Laboratory untereinander, aber auch die Möglichkeit, das Wissen in neuen Visualisierungsformen anderen Forschern, Behörden und Stadtplanern zur Verfügung zu stellen. Gideon Aschwanden, Doktorand im Forschungs-Modul «Simulation Platform» arbeitet seit zwei Jahren mit seinem Team intensiv an der Entwicklung und am Ausbau dieser Plattform. Daneben hat er in einem eigenen Teilprojekt speziell das Fussgängerverhalten in verschiedenen Stadtteilen Singapurs untersucht. Auch für ihn ist der Stadtteil Rochor ein spezielles Referenzobjekt: «Verglichen mit einem modernen Stadtteil wie Punggol können wir in Rochor viel mehr Fussgängeraktivitäten feststellen.» Dies ist nach Ansicht des Forschers nicht nur gut, weil es den Stadtraum belebt, sondern auch ökologisch nachhaltig und positiv für die Gesundheit der Bevölkerung.

Aus ihren Beobachtungen wollen die Forscher nun Alternativvorschläge für zukünftige Entwicklungen in Singapur erarbeiten. Ob und wie sich die Sichtweise der Forscher mit den Singapurer Realitäten und Sichtweisen in Einklang bringen lässt, muss sich noch weisen. Die Forscher sind jedenfalls in stetigem Kontakt mit den Singapurer Behörden und wollen diesen Meinungsaustausch noch intensivieren. «Wir lernen viel über Leben und Stadtplanung in einem Umfeld, das für die Entwicklung der Städte der Zukunft in vielerlei Hinsicht symptomatisch ist», sagt Programmleiter Kees Christiaanse. «Und wir entwickeln Alternativkonzepte, die diskutiert werden können.»

Future Cities Laboratory

Das «Future Cities Laboratory» (FCL) wurde als interdisziplinäres Forschungsprogramm für nachhaltige Stadtentwicklung im September 2010 gestartet. Es ist Teil des Singapore-ETH Centre (SEC). Im Zentrum des Forschungsprogramms stehen drei Schwerpunkte: nachhaltige Gebäudetechnologien, die Stadt als urbanes System und das Verhältnis zwischen Stadt und Land. «Rochor+» ist eines der aktuellen Integrationsprojekte, in dem verschiedene Ansätze zusammenfliessen. Die ETH Zürich arbeitet im Rahmen des Future Cities Laboratory unter anderem mit der National University of Singapore (NUS) und der Nanyang Technological University (NTU) zusammen. Direktor des SEC ist Professor Gerhard Schmitt. Das Future Cities Laboratory leitet Professor Kees Christiaanse.

 
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