Veröffentlicht: 12.09.12
Kolumne

Strenge, die uns hilft

Eine Schweizer Sonntagszeitung fordert weniger Mathematik. Kolumnist Martin Sack kann das nicht nachvollziehen. Mathematik sei weder ein Fach für vergeistigte Sonderlinge noch reiche es, nur Äpfel und Kuchenstücke zusammenzählen zu können.

Martin Sack
Martin Sack, Doktorand am Departement Mathematik (Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich)
Martin Sack, Doktorand am Departement Mathematik (Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich) (Grossbild)

«Mathematik habe ich in der Schule immer gehasst.» Stimmen Sie zu? Fragen Sie sich, warum man jungen Menschen das Herumschieben von Termen zumutet, während sie in dieser Zeit besser «etwas fürs Leben» lernen könnten; zum Beispiel, wie man eine Steuererklärung ausfüllt? Dann werden Sie mit nickendem Kopf «Weniger Mathematik bitte!», den Leitartikel auf der Wissensseite der NZZ am Sonntag vom 2. September gelesen haben. Matthias Fienbork hat das englische Original von Andrew Hacker übersetzt («Is Algebra Necessary?», Andrew Hacker, The New York Times am 28. Juli 2012).

Hacker argumentiert wie folgt: An amerikanischen Schulen scheitern viele an elementarer Algebra. Da Mathematik ein Pflichtfach ist und zudem viele Universitäten nicht nur ein Bestehen, sondern gute Noten voraussetzen, fallen Talente durch das Netz - unnötigerweise. Schliesslich benötige man in der realen Welt nur Arithmetik. Die universitäre Mathematik gehöre in den Rang einer Kunst versetzt, deren Beherrschung einigen Vergeistigten vorbehalten bliebe. Schülern aber solle man praktische Dinge beibringen und sie nicht nach irrelevanten Fähigkeiten sieben.

Viele Leser werden sich an ihre Schulzeit erinnern: Man beginnt mit den natürlichen Zahlen. Zuerst zählt man Äpfel, dann Torten. Wenn man Torten zerschneidet, gelangt man zu den Brüchen. Vielleicht ist man zwischendurch negativen Zahlen begegnet, aber ansonsten bleibt «Mathematik» anschaulich. Dann folgt die erste Abstraktion und anstatt konkreter Werte lernt man mit Variablen zu rechnen. Vorbei ist es mit Obst, Gemüse und Gebäck. Und es beginnt der Frust. Dann erzählt einem der Lehrer, dass bestimmte quadratische Gleichungen keine Lösungen haben, die sich als Brüche darstellen lassen. Man löst immer abstraktere Gleichungen, diskutiert Funktionen, leitet sie womöglich noch ab und nach jahrelanger Qual ist einem das, was man für Mathematik hält, zuwider. Man ist ja nicht allein: In der Schweiz schrieben laut NZZ am Sonntag im Jahrgang 2008 stolze 40 Prozent der Schüler eine ungenügende Maturprüfung in Mathematik. Warum bleiben wir also nicht einfach bei den Tortenstücken? Ein Taschenrechner kann es schliesslich auch nicht besser. Die Beherrschung von Grundrechenarten ist «wichtig (für) informierte Staatsbürger und (ihre) persönlichen Finanzen» (Hacker nach Fienbork). Alles andere ist intellektueller Schmuck (Mengenlehre!).

Ist er das wirklich? Die Antwort aufdiese Frage finden wir, wenn wir uns mit Abstraktion beschäftigen. Wie lernen wir das Rechnen? Sicher, wir haben alle das kleine Einmaleins gebüffelt. Aber können Sie jede Rechnung, die Sie je durchführen konnten, bereits auswendig? Nein? Gut! Wir lernen, dass den Rechenarten Gesetzmässigkeiten zugrunde liegen. Sie erfüllen gewisse Regeln. Dank der Inder verfügen wir über ein Stellenwertsystem, um Zahlen jenseits der Zehn vernünftig handhaben zu können. Es gibt Algorithmen, mit denen wir Rechnungen in kleine im Kopf berechenbare Schritte zerlegen können. Mit jenen Gesetzmässigkeiten können wir rechtfertigen, warum diese Algorithmen gültig sind. Wir betreiben Logik, eine der drei klassischen philosophischen Disziplinen. Führen wir abstraktere Objekte ein, gelangen wir weiter und weiter. Wir lernen, Probleme zu abstrahieren (Textaufgaben nennt sich das in der Schule). Und schliesslich beginnen wir, die Sprache der Naturwissenschaft und Technik zu verstehen. Sie ist zugegebenermassen nicht so intuitiv wie natürliche Sprachen. Aber wir gewinnen eine Strenge, die uns in der Neuzeit hilft. Über die Funktionsweise eines Motors wollen Sie schliesslich nicht diskutieren.

Nun gut, werden Sie sagen, aber brauche ich wirklich alle diese Spielereien? «Medizinstudenten in Harvard oder Johns Hopkins (Baltimore) müssen Kenntnisse in Analysis nachweisen, obwohl sie das weder in der klinischen Ausbildung noch im praktischen Alltag brauchen.» (ebd.) Analysis ist ein Grundpfeiler der Statistik. Und es genügt nicht, Statistik als eine Sammlung von Rezepten zu betrachten, deren Herkunft man nicht verstehen muss. Sonst gelangt man zu Fehlschlüssen (Ioannidis JPA (2005) Why Most Published Research Findings Are False. PLoS Med 2(8): e124). Wollen Sie sich von Schamanen behandeln lassen?

Wer soll uns regieren? «Es ist nicht belegt, dass derjenige, der (x² + y²)² = (x² – y²)² + (2xy)² beweisen kann, in seinen politischen Ansichten oder sozialen Analysen glaubwürdiger ist.» (Hacker nach Fienbork) Vielleicht muss man das nicht gerade aus dem Ärmel schütteln können, aber sind Sophisten glaubwürdiger?

In welchen Bereichen sollen die Talente brillieren, die wir fälschlich gesiebt haben? Es geht hier nicht um ein Fach für begabte Sonderlinge. Mathematik ist ein Teil unserer Gesellschaft und unseres kulturellen Erbes. Wir werden das Fach nicht vereinfachen können - aber deswegen sollten wir uns nicht selbst täuschen.

Zum Autor

Martin Sack ist Doktorand am Departement Mathematik. Aufgewachsen ist der heute 26-Jährige in Mainz, wo er 2004 sein Abitur ablegte. Für sein Physik-Studium kam er an die ETH Zürich. Hier erlangte er seinen Master 2008. Schliesslich realisierte er, dass Physik auch in der realen Welt eingesetzt werden könnte und begann, ebenfalls an der ETH, ein Doktorat in Mathematik. Er arbeitet derzeit an nichtlinearen dispersiven Gleichungen. Ist Martin Sack nicht gerade für seine Dissertation am Zahlenbeigen, ist er der Schatzmeister der Akademischen Vereinigung des Mittelbaus der ETH Zürich AVETH. In seiner Freizeit lässt er gerne Rundes kreisen: die Räder seines Bikes am Tage und nach Sonnenuntergang die Plattenteller als DJ. Am meisten fasziniert ihn, was mit elektronischer Musik möglich geworden ist.

 
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