Veröffentlicht: 20.06.12
Science

Ankerpunkte bestimmen Schicksal von Stammzellen

Die Forscher waren sich sicher: Die Weichheit eines Trägermaterials beeinflusst in Kultur das Verhalten von Stammzellen. Nun kommen andere Wissenschaftler zu einem neuen Befund: Massgebend sind die Zahl der Ankerpunkte, an denen sich die Zellen festhalten können.

Peter Rüegg
Menschliche mesenchymale Stammzellen auf einem Polyacrylamid-Gel: Blau gefärbte Zellen haben sich nach sieben Tagen zu Knochenzellen differenziert, während die Zellen, die rote Ölkügelchen enthalten, zu Fettzellen differenzierten. (Bild: Bojun Li und Prof. Viola Vogel / ETH Zürich)
Menschliche mesenchymale Stammzellen auf einem Polyacrylamid-Gel: Blau gefärbte Zellen haben sich nach sieben Tagen zu Knochenzellen differenziert, während die Zellen, die rote Ölkügelchen enthalten, zu Fettzellen differenzierten. (Bild: Bojun Li und Prof. Viola Vogel / ETH Zürich) (Grossbild)

Ob sich Stammzellen differenzieren oder nicht, ist offenbar weniger eine Frage der Beschaffenheit des Trägermaterials, auf dem sie gedeihen, sondern mehr eine Frage der mechanischen Verankerung der Zellen an der Substratoberfläche. Das zeigt eine eben in «Nature Materials» veröffentliche Studie von Forscherinnen und Forschern verschiedener europäischer Universitäten, darunter der ETH Zürich.

Seit 2006 war die Forschergemeinde überzeugt, dass Stammzellen die Weichheit von Materialien, auf denen sie wachsen, «fühlen» können. Diese Schlussfolgerung zogen die Wissenschaftler vor allem aus Korrelationen zwischen der Weichheit bestimmter Trägermaterialien und dem Verhalten der Zellen.

Die neue Forschungsarbeit, zu der ETH-Professorin Viola Vogel und ihr Doktorand Bojun Li einen wichtigen Beitrag leisteten, kommt zu einem anderen Schluss. Sie zeigt auf, dass die Beschaffenheit der Netzstruktur von Polymeren massgeblich die Verankerung der Kollagen-Proteine reguliert, an denen sich die Zellen letztlich festhalten. Und diese Verankerungen prägt die Differenzierung von Stammzellen.

Gute Proteinhaftung lässt Oberfläche als «steif» erscheinen

In den Versuchen, die die Doktorandin Britta Trappmann von der Universität Cambridge teilweise an der ETH Zürich durchführte, wurden die Zellen auf zwei verschiedene Polymere von gleicher Weichheit gegeben. Die Polymere unterschieden sich jedoch in ihrer Oberflächenstruktur, die ihrerseits die Zahl der fest verankerten Kollagenproteine reguliert.

Reduzierten die Forscherinnen und Forscher auf einer harten Oberfläche die Zahl der gut verankerten Proteine, verhielten sich die Zellen gleich wie auf einer weichen Unterlage. Lagen die Verankerungen dichter beieinander, differenzierten sich die Stammzellen zu Knochenzellen. Waren die Verankerungen weiter voneinander entfernt, wurden aus ihnen Fettzellen. «Die einfache Korrelation, dass die Steifheit respektive Elastizität eines Materials die Differenzierung von Stammzellen regulieren kann, ist demnach nicht allgemein gültig», sagt Viola Vogel.

Paradigmenwechsel bei Zucht von Stammzellen

Mit ihrem Experiment stösst die Studie ein Paradigma um. In einer Studie von 2006 zeigten Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen der Steifheit eines Polymers und dem Grad der Zelldifferenzierung auf. Die Steifheit des Polymers wurde jedoch variiert, indem die Forschenden seine Netzstruktur variierten.

Die neue Studie zeigt auf, dass diese Netzstruktur und nicht die Steifheit reguliert, wie die extrazellulären Matrixproteine an das Polymer gebunden werden. Die neuen Erkenntnisse zeigen auch, dass die mechanische Rückkopplung über die extrazelluläre Kollagen-Matrix die entscheidende Rolle bei der Zelldifferenzierung spielt.

Beispielhafte Kollaboration europäischer Labors

Für diese Studie arbeitete die Doktorandin Britta Trappmann von der Universität Cambridge mit zahlreichen europäischen Forschungsteams zusammen. Jedes davon verfügte über spezifisches Knowhow, das in dieser Arbeit wie Mosaiksteinchen zusammengetragen wurde. «Damit diese Arbeit gelingen konnte, waren verschiedene Techniken nötig», sagt Viola Vogel. Die Arbeit wurde von den Professoren Fiona Watt und Wilhelm Huck in Cambridge und Nijmegen angestossen. Auch die Gruppe von Professor Joachim Spatz vom Max Planck Institut für Intelligente Systeme in Stuttgart arbeitete am Experiment mit. Jedes der beteiligten Labors hat mit seiner Expertise massgeblich zum Gelingen beigetragen.

Altes Problem neu betrachtet

«Die Befunde werden einen grossen Einfluss haben auf die Art und Weise, wie Materialien zur Anzucht von Stammzellen entwickelt werden», ist die ETH-Professorin überzeugt. Es sei augenscheinlich, dass die mechanischen Eigenschaften der Schnittstellen zwischen Zellen und extrazellulärer Matrix auf unterschiedlichen Substraten verschieden sind. «Das wurde bisher übersehen», schätzt sie, «und man wird über das Problem von Trägermedien in Zukunft anders nachdenken.» Trägermedien wie solche Polymere werden in Labors und in der Klinik dafür gebraucht, um Stammzellen für die Erzeugung künstlicher Gewebe zu züchten.

Literaturnachweis

Trappmann B, Gautrot JE, Connelly JT, Strange DGT, Li Y, Oyen ML, Cohen Stuart MA, Boehm H, Li B, Vogel V, Spatz JP, Watt FM & Huck WTS. Extracellular-matrix tethering regulates stem-cell fate. Nature Materials. Nature Materials (2012) Published online 27 May 2012. doi:10.1038/nmat3339.

 
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