Veröffentlicht: 13.06.12
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«Erforschen, warum Elektronen tun, was sie tun!»

Nicola Spaldin, Professorin für Materialtheorie am Departement für Materialwissenschaft der ETH Zürich, erhält den mit 200‘000 Schweizer Franken dotierten Max-Rössler-Preis. Die passionierte Materialforscherin weckt im Interview Begeisterung für ihr Fach.

Interview: Simone Ulmer
Die Materialforscherin Nicola Spaldin erhält den Max-Rössler-Preis.
Die Materialforscherin Nicola Spaldin erhält den Max-Rössler-Preis. (Grossbild)

Ihre lange Liste von Auszeichnungen und Ehrungen wird mit dem Max-Rössler-Preis abermals länger. Was bedeutet dieser Preis für Sie?
Was diese Auszeichnung so bedeutsam macht, ist die Tatsache, dass sie den Forschern von ihrer Heimatinstitution verliehen wird. Das finde ich etwas ganz Besonderes. Es ist auch deshalb enorm erfreulich, weil ich überaus talentierte Kolleginnen und Kollegen habe, die interessante Forschungsprojekte betreiben. Ich kann mir daher gar nicht vorstellen, wie die Schulleitung es geschafft hat, darunter eine einzige Person auszuwählen. Es ist fast ein bisschen peinlich (lacht), dass die Wahl gerade auf mich gefallen ist. Aber natürlich ist es auch sehr schmeichelhaft, da an der ETH so viel interessante Forschung betrieben wird.

Es ist somit eine spezielle Ehre für Sie?
Ja, natürlich!

Sie haben Ihren Bachelor in Chemie und Geologie an der Universität Cambridge gemacht, anschliessend in Chemie an der University of California, Berkeley promoviert und dann als Physikerin gearbeitet. Heute sind Sie Professorin für Materialtheorie. Wie ist es dazu gekommen?
Das ist eine gute Frage. In der Materialwissenschaft führen wir oft Diskussionen darüber, was Materialwissenschaft überhaupt ist. Was definiert sie, und was unterscheidet sie beispielsweise von der Chemie oder der Physik? Einer der Hauptunterschiede ist, dass die Materialwissenschaft sehr interdisziplinär ist. Sie bedient sich all der anderen Wissenschaften und nutzt zudem alle Aspekte der Technik. Meine Tätigkeit bewegt sich stark im Grenzbereich zwischen theoretischer- und Festkörperchemie, kondensierter Materie und Mineralphysik. Das alles fliesst in der Materialwissenschaft zusammen.

Und Ihr Herz schlägt in der Wissenschaft für …
Das ist wahrscheinlich bei jedem Professor gleich: Mein eigener Forschungsbereich, die Materialtheorie, ist für mich das Interessanteste auf der Welt! Die ETH-Professoren haben in der Forschung sehr viel Freiheit, so dass wir an dem arbeiten können, was uns besonders interessant und wichtig erscheint.

Wie würden Sie Ihre Forschungstätigkeit in wenigen Sätzen beschreiben?
Meine Forschungsgruppe und ich konzipieren neuartige Werkstoffe mit kombinierten multiplen Funktionalitäten, die entweder miteinander konkurrieren oder einander ergänzen und so die Materialeigenschaften verbessern. Da unser Schwerpunkt in der Materialtheorie liegt, führen wir Berechnungen durch, um die Eigenschaften von vorhandenen Werkstoffen zu verstehen und zu erklären. Dieses Wissen nutzen wir dann, um am Computer neue Materialien zu konzipieren. In der Vergangenheit haben wir mit Experimentalwissenschaftlern zusammengearbeitet, um solche Materialien herzustellen und zu charakterisieren. Nun sind wir gerade dabei, an der ETH unser eigenes Syntheselabor aufzubauen. Das ist eine neue Richtung, die für mich ein riesiges Abenteuer ist!

Ihre Forschung klingt sehr nach Grundlagenforschung.
Ja, viel von dem, was wir tun, ist sehr grundlegend. Wir sind interessiert daran, neue Materialien herzustellen, die Eigenschaften oder Kombinationen von Eigenschaften besitzen, an die noch niemand zuvor gedacht hat; Materialien, mit komplett neuen Verhaltensweisen. Wir möchten völlig neue Funktionen entdecken, neue Wege zum Beispiel in der Art, wie Atome und Elektronen auf Licht, Temperatur oder Magnetfelder reagieren. Da wir noch nicht wissen, welche Funktionen das sein werden, wissen wir auch noch nicht, ob oder wo sie zur Anwendung kommen können.

Im Moment gibt es also für Ihre derzeitige Forschung keine praktischen Anwendungen?
In unserer Forschungsgruppe haben wir ein Gleichgewicht zwischen sehr langfristig ausgerichteter Grundlagenforschung und der Erforschung von Materialien, die auch kurz- und mittelfristig für Geräte und Technologien relevant sind. Ein Beispiel für unsere mehr anwendungsbezogene Forschung sind sogenannte magnetoelektrische Materialien. Magnetische Materialien sind technisch extrem wichtig. In Ihrem Auto gibt es über 200 Magnete in Elektromotoren, Sensoren, Stellgliedern und unterschiedlichen Instrumenten. Magnete können derzeit nur über elektrisch erzeugte Magnetfelder gesteuert werden. Um ein Magnetfeld zu erzeugen, braucht es eine Drahtspule, durch die Strom fliesst. Das ist umständlich, gewichtsintensiv und verbraucht viel Strom. In unseren magnetoelektrischen Materialien entwickeln wir eine Kopplung zwischen magnetischen und elektrischen Eigenschaften. Im Prinzip könnte man damit die gesamte derzeit bestehende Magnettechnik abbilden, ergänzt mit elektrischen Feldern für die Feinabstimmung und das An- oder Abschalten. Das Kombinieren beider Eigenschaften würde die Energieeffizienz und Miniaturisierung erheblich verbessern.

Bei Ihrem jüngsten Projekt arbeiten Sie mit Hochenergie-Physikern und Kosmologen zusammen. Wo berühren sich die Materialforschung und die Kosmologie?
Die Kosmologen möchten herausfinden, was in der Frühzeit des Universums kurz nach dem Urknall passiert ist. Aber sie können ihre Theorien nur schwer testen, da sich der Big Bang ja nicht im Labor wiederholen lässt. Wir haben festgestellt, dass eines unserer magnetoelektrischen Materialien ähnliche Symmetrieeigenschaften aufweist wie jene, die vermutlich in der Frühzeit des Universums existierten. Daraufhin haben wir Laborexperimente konzipiert, mit denen sich Aspekte des Big Bang reproduzieren lassen. Ich habe selten an einem Projekt gearbeitet, das mir so viel Spass gemacht hat, zumal zu Beginn unserer magnetoelektrischen Forschung niemand mit einer derartigen Entdeckung gerechnet hat! Mit den Hochenergie-Physikern entwerfen wir neue magnetoelektrische Materialien für Präzisionsmessungen von grundlegenden Eigenschaften der Elektronen, die wiederum Auswirkungen auf Theorien der Hochenergie-Physik, wie z.B. die Supersymmetrie, haben.

Was fasziniert Sie in Ihrer Forschung am meisten?
Zu erforschen, warum Elektronen tun, was sie tun! Wir wissen relativ genau, warum ein einzelnes Elektron sich so verhält, wie es sich verhält, und wir wissen sogar, wie zwei Elektronen miteinander interagieren. Aber warum interagieren Elektronen, wenn sie in grosser Zahl in einem Festkörper aufeinandertreffen, so untereinander, dass sie exotische Eigenschaften wie Supraleitfähigkeit oder neue Arten von Magnetismus ermöglichen? Wir haben keine Ahnung. Was macht das «kollektive» Verhalten dieser kleinen elektrischen Teilchen so besonders? Für mich ist das die interessanteste fundamentale Frage.

Welches ist für Sie als Wissenschaftlerin die grösste Herausforderung?
Wahrscheinlich dieselbe Herausforderung, mit der heutzutage alle fertig werden müssen: Nicht genügend Zeit dafür zu haben, die Dinge zu tun, die ich gerne und auch gut machen möchte. Ich möchte gerne mehr Zeit mit den Studierenden, mit den forschenden Postdoktoranden und mit der eigenen Forschung verbringen, Zeit für eine effektive Lehrtätigkeit haben, Zeit zum Nachdenken… Und manchmal wäre es auch toll, nach Hause zu fahren und so zu tun, als ob ich ein Privatleben hätte (lacht).

Sie haben nicht nur viele Forschungsinteressen, sondern sind auch Bergsteigerin, Skifahrerin, Klarinettistin, Pianistin und vieles mehr.
Stimmt, das Klavier in meinem Büro dient dazu, Kammermusik zu spielen, die ich sehr gerne mag – allerdings nicht, wenn ich selbst Klavier spiele; das wäre für die anderen Musiker und die Zuhörer eine Qual. Bei der Kammermusik spiele ich Klarinette.

Woher nehmen Sie die Zeit für all diese Aktivitäten?
Gute Frage. Ich habe wenig Leerlauf. Das Schwierigste ist, eine Balance zu finden zwischen den beruflichen Anforderungen, von denen ich bereits sprach, und all den Reisen zu Tagungen sowie den Forschungskooperationen und der Verwaltungsarbeit. Am besten geht es mir, wenn ich zu Hause an der ETH bleiben und mit meinem Team über wissenschaftliche Fragen diskutieren kann.

Wofür werden Sie das Preisgeld verwenden?
An der ETH werden unsere zentralen Forschungsaktivitäten sehr gut unterstützt - von der ETH selbst, aber auch von externen Stellen wie dem Schweizerischen Nationalfonds und dem Europäischen Forschungsrat. Anstatt ein neues Projekt anzufangen, das ich aus dieser Quelle finanzieren könnte, möchte ich den Rössler-Preis als «schnellen Reaktionsfonds» bereithalten, wenn wir ganz spontan eine neue Richtung einschlagen möchten. Also dann, wenn wir eine neue Idee haben und am liebsten sofort mit der Arbeit beginnen würden, wir dafür aber erst ein spezielles Gerät brauchen oder neue Mitarbeiter.
Ausserdem möchte ich kleinere Treffen organisieren, zu denen wir Experten aus verwandten Forschungsbereichen einladen, um mit der Gruppe ein paar Tage intensives Brainstorming zu machen, in denen wir über neue Forschungsrichtungen sprechen und überlegen, was geschehen muss, um diesen Forschungsbereich weiter voranzubringen. Und schliesslich möchte ich einige Gastwissenschaftler davon überzeugen, an der ETH ein Sabbatical zu verbringen, um so neue Kooperationen einzufädeln. Vielleicht kann ich ja dadurch auch wieder etwas Zeit einsparen.

Zur Person

Die Britin Nicola Spaldin studierte Geologie und Chemie an der Universität Cambridge in Grossbritanien. Anschliessend promovierte sie 1996 an der University of California, Berkeley, in Chemie. Als Postdoktorandin war sie an der Yale University, New Haven, CN, bevor sie in Kalifornien eine Assistenzprofessur (1997-2002) und eine ausserordentliche Professur (2002-2006) am Departement für Werkstoffkunde der University of California, Santa Barbara, übernahm. Dort wurde sie 2006 auch zur ordentlichen Professorin berufen. 2011 folgte sie dem Ruf an die ETH Zürich.

Max-Rössler-Preis

Der promovierte Mathematiker und ETH-Absolvent Max Rössler schenkte 2007 der ETH Zürich 10 Millionen Franken mit einer Donation an die ETH Zürich Foundation. Mit dem Preis wird jeweils ein besonders vielversprechender junger ETH-Professor in der Expansionsphase seiner Forscherkarriere gefördert. Die Auszeichnung wird zur Förderung des Potenzials eines Wissenschaftlers im Bereich Naturwissenschaften und Technik vergeben. Bis anhin erhielten der Strukturbiologe Nenad Ban, der Erdwissenschaftler Gerald Haug und der Physiker Andreas Wallraff den mit 200‘000 Franken dotierten Preis.