«Erforschen, warum Elektronen tun, was sie tun!»
Nicola Spaldin, Professorin für Materialtheorie am Departement für Materialwissenschaft der ETH Zürich, erhält den mit 200‘000 Schweizer Franken dotierten Max-Rössler-Preis. Die passionierte Materialforscherin weckt im Interview Begeisterung für ihr Fach.
Ihre lange Liste von Auszeichnungen und Ehrungen wird mit dem
Max-Rössler-Preis abermals länger. Was bedeutet dieser Preis für Sie?
Was diese
Auszeichnung so bedeutsam macht, ist die Tatsache, dass sie den Forschern von
ihrer Heimatinstitution verliehen wird. Das finde ich etwas ganz Besonderes. Es
ist auch deshalb enorm erfreulich, weil ich überaus
talentierte Kolleginnen und Kollegen habe, die interessante Forschungsprojekte
betreiben. Ich kann mir daher gar nicht vorstellen, wie die Schulleitung es
geschafft hat, darunter eine einzige Person auszuwählen. Es ist fast ein bisschen peinlich
(lacht), dass die Wahl gerade auf mich gefallen ist. Aber natürlich ist es auch
sehr schmeichelhaft, da an der ETH so viel interessante Forschung betrieben
wird.
Es ist somit eine spezielle Ehre für Sie?
Ja, natürlich!
Sie haben Ihren Bachelor in Chemie und Geologie an der
Universität Cambridge gemacht, anschliessend in Chemie an der University of
California, Berkeley promoviert und dann als Physikerin gearbeitet. Heute sind Sie Professorin für Materialtheorie. Wie ist es dazu gekommen?
Das ist eine gute
Frage. In der
Materialwissenschaft führen wir oft Diskussionen darüber, was
Materialwissenschaft überhaupt ist. Was definiert sie, und was unterscheidet sie beispielsweise
von der Chemie oder der Physik? Einer der Hauptunterschiede ist, dass die Materialwissenschaft sehr
interdisziplinär ist. Sie bedient sich all der anderen Wissenschaften und nutzt
zudem alle Aspekte der Technik. Meine Tätigkeit bewegt sich stark im Grenzbereich zwischen theoretischer-
und Festkörperchemie, kondensierter Materie und Mineralphysik. Das alles
fliesst in der Materialwissenschaft zusammen.
Und Ihr Herz schlägt in der Wissenschaft für …
Das ist
wahrscheinlich bei jedem Professor gleich: Mein eigener Forschungsbereich, die Materialtheorie,
ist für mich das Interessanteste auf der Welt! Die ETH-Professoren haben in der
Forschung sehr viel Freiheit, so dass wir an dem arbeiten können, was uns
besonders interessant und wichtig erscheint.
Wie würden Sie Ihre Forschungstätigkeit in wenigen Sätzen
beschreiben?
Meine
Forschungsgruppe und ich konzipieren neuartige Werkstoffe mit kombinierten
multiplen Funktionalitäten, die entweder miteinander konkurrieren oder einander
ergänzen und so die Materialeigenschaften verbessern. Da
unser Schwerpunkt in der Materialtheorie
liegt, führen wir Berechnungen durch, um die Eigenschaften von vorhandenen
Werkstoffen zu verstehen und zu erklären. Dieses Wissen nutzen wir dann, um am
Computer neue Materialien zu konzipieren. In der Vergangenheit haben wir mit
Experimentalwissenschaftlern zusammengearbeitet, um solche Materialien herzustellen
und zu charakterisieren. Nun sind wir gerade dabei, an der ETH unser eigenes
Syntheselabor aufzubauen. Das ist eine neue Richtung, die für mich ein riesiges
Abenteuer ist!
Ihre Forschung klingt sehr nach Grundlagenforschung.
Ja, viel von dem, was wir tun, ist sehr
grundlegend. Wir sind interessiert daran, neue Materialien herzustellen, die Eigenschaften
oder Kombinationen von Eigenschaften besitzen, an die noch niemand zuvor
gedacht hat; Materialien, mit komplett neuen Verhaltensweisen. Wir möchten völlig neue Funktionen
entdecken, neue Wege zum Beispiel in der Art, wie Atome und Elektronen auf
Licht, Temperatur oder Magnetfelder reagieren. Da wir noch nicht wissen, welche
Funktionen das sein werden, wissen wir auch noch nicht, ob oder wo sie zur
Anwendung kommen können.
Im Moment gibt es also für Ihre derzeitige Forschung keine
praktischen Anwendungen?
In unserer
Forschungsgruppe haben wir ein Gleichgewicht zwischen sehr langfristig
ausgerichteter Grundlagenforschung und der Erforschung von Materialien, die
auch kurz- und mittelfristig für Geräte und Technologien relevant sind. Ein Beispiel für unsere mehr anwendungsbezogene
Forschung sind sogenannte magnetoelektrische Materialien. Magnetische Materialien sind technisch
extrem wichtig. In Ihrem Auto gibt es über 200 Magnete in Elektromotoren,
Sensoren, Stellgliedern und unterschiedlichen Instrumenten. Magnete können
derzeit nur über elektrisch erzeugte Magnetfelder gesteuert werden. Um ein
Magnetfeld zu erzeugen, braucht es eine Drahtspule, durch die Strom fliesst.
Das ist umständlich, gewichtsintensiv und verbraucht viel Strom. In
unseren magnetoelektrischen Materialien entwickeln
wir eine Kopplung zwischen magnetischen und elektrischen Eigenschaften. Im Prinzip könnte man damit die gesamte
derzeit bestehende Magnettechnik abbilden, ergänzt mit elektrischen Feldern für
die Feinabstimmung und das An- oder Abschalten. Das Kombinieren beider Eigenschaften würde
die Energieeffizienz und Miniaturisierung erheblich verbessern.
Bei Ihrem jüngsten Projekt arbeiten Sie mit
Hochenergie-Physikern und Kosmologen zusammen. Wo berühren sich die Materialforschung und die
Kosmologie?
Die Kosmologen
möchten herausfinden, was in der Frühzeit des Universums kurz nach dem Urknall
passiert ist. Aber sie können ihre Theorien nur schwer testen, da sich der Big
Bang ja nicht im Labor wiederholen lässt. Wir haben festgestellt, dass eines unserer
magnetoelektrischen Materialien ähnliche Symmetrieeigenschaften aufweist wie
jene, die vermutlich in der Frühzeit des Universums existierten. Daraufhin
haben wir Laborexperimente konzipiert, mit denen sich Aspekte des Big Bang
reproduzieren lassen. Ich habe selten an einem Projekt gearbeitet, das mir so viel Spass gemacht
hat, zumal zu Beginn unserer magnetoelektrischen Forschung niemand mit einer
derartigen Entdeckung gerechnet hat! Mit den Hochenergie-Physikern entwerfen
wir neue magnetoelektrische Materialien für Präzisionsmessungen von
grundlegenden Eigenschaften der Elektronen, die wiederum Auswirkungen auf
Theorien der Hochenergie-Physik, wie z.B. die Supersymmetrie, haben.
Was fasziniert Sie in Ihrer Forschung am meisten?
Zu erforschen,
warum Elektronen tun, was sie tun! Wir wissen relativ genau, warum ein einzelnes Elektron sich so verhält, wie
es sich verhält, und wir wissen sogar, wie zwei Elektronen miteinander
interagieren. Aber warum interagieren Elektronen, wenn sie in grosser Zahl in einem
Festkörper aufeinandertreffen, so untereinander, dass sie exotische
Eigenschaften wie Supraleitfähigkeit oder neue Arten von Magnetismus ermöglichen?
Wir haben keine Ahnung. Was macht das «kollektive» Verhalten dieser kleinen elektrischen Teilchen
so besonders? Für mich ist das die interessanteste fundamentale Frage.
Welches ist für Sie als Wissenschaftlerin die grösste
Herausforderung?
Wahrscheinlich
dieselbe Herausforderung, mit der heutzutage alle fertig werden müssen: Nicht
genügend Zeit dafür zu haben, die Dinge zu tun, die ich gerne und auch gut
machen möchte. Ich möchte gerne mehr Zeit mit den Studierenden, mit den forschenden Postdoktoranden
und mit der eigenen Forschung verbringen, Zeit für eine effektive Lehrtätigkeit
haben, Zeit zum Nachdenken… Und manchmal wäre es auch toll, nach Hause zu fahren und so zu tun, als ob
ich ein Privatleben hätte (lacht).
Sie haben nicht nur viele Forschungsinteressen, sondern
sind auch Bergsteigerin, Skifahrerin, Klarinettistin, Pianistin und vieles
mehr.
Stimmt, das
Klavier in meinem Büro dient dazu, Kammermusik zu spielen, die ich sehr gerne
mag – allerdings nicht, wenn ich selbst Klavier spiele; das wäre für die
anderen Musiker und die Zuhörer eine Qual. Bei der Kammermusik spiele ich
Klarinette.
Woher nehmen Sie die Zeit für all diese Aktivitäten?
Gute Frage. Ich
habe wenig Leerlauf. Das Schwierigste ist, eine Balance zu finden zwischen den beruflichen
Anforderungen, von denen ich bereits sprach, und all den Reisen zu Tagungen
sowie den Forschungskooperationen und der Verwaltungsarbeit. Am besten geht es mir, wenn ich zu
Hause an der ETH bleiben und mit meinem Team über wissenschaftliche Fragen
diskutieren kann.
Wofür werden Sie das Preisgeld verwenden?
An der ETH werden
unsere zentralen Forschungsaktivitäten sehr gut unterstützt - von der ETH selbst, aber auch von externen
Stellen wie dem Schweizerischen Nationalfonds und dem Europäischen Forschungsrat. Anstatt ein neues Projekt anzufangen,
das ich aus dieser Quelle finanzieren könnte, möchte ich den Rössler-Preis als
«schnellen Reaktionsfonds» bereithalten, wenn wir ganz spontan eine neue
Richtung einschlagen möchten. Also dann, wenn wir eine neue Idee haben und am liebsten
sofort mit der Arbeit beginnen würden, wir dafür aber erst ein spezielles Gerät
brauchen oder neue Mitarbeiter.
Ausserdem möchte
ich kleinere Treffen organisieren, zu denen wir Experten aus verwandten
Forschungsbereichen einladen, um mit der Gruppe ein paar Tage intensives
Brainstorming zu machen, in denen wir über neue Forschungsrichtungen sprechen
und überlegen, was geschehen muss, um diesen Forschungsbereich weiter
voranzubringen. Und schliesslich möchte ich einige Gastwissenschaftler davon überzeugen, an
der ETH ein Sabbatical zu verbringen, um so neue Kooperationen einzufädeln. Vielleicht kann ich ja dadurch auch
wieder etwas Zeit einsparen.
Zur Person
Die Britin Nicola Spaldin studierte
Geologie und Chemie an der Universität Cambridge in Grossbritanien. Anschliessend promovierte sie 1996 an der
University of California, Berkeley, in Chemie. Als Postdoktorandin war sie an der Yale University, New Haven, CN, bevor
sie in Kalifornien eine Assistenzprofessur (1997-2002) und eine
ausserordentliche Professur (2002-2006) am Departement für Werkstoffkunde der
University of California, Santa Barbara, übernahm. Dort wurde sie 2006 auch zur
ordentlichen Professorin berufen. 2011 folgte sie dem Ruf an die ETH Zürich.
Max-Rössler-Preis
Der promovierte Mathematiker und ETH-Absolvent Max Rössler schenkte 2007 der ETH Zürich 10 Millionen Franken mit einer Donation an die ETH Zürich Foundation. Mit dem Preis wird jeweils ein besonders vielversprechender junger ETH-Professor in der Expansionsphase seiner Forscherkarriere gefördert. Die Auszeichnung wird zur Förderung des Potenzials eines Wissenschaftlers im Bereich Naturwissenschaften und Technik vergeben. Bis anhin erhielten der Strukturbiologe Nenad Ban, der Erdwissenschaftler Gerald Haug und der Physiker Andreas Wallraff den mit 200‘000 Franken dotierten Preis.
LESERKOMMENTARE