Veröffentlicht: 08.05.12
Science

Kompromissfähige Bakterien

Die Evolution und eine gut funktionierende Volkswirtschaft haben mindestens zwei Erfolgsfaktoren gemeinsam: Kompromisse schliessen und Ressourcen optimal einsetzen zu können. Auf diese Gemeinsamkeit weisen Forschende der ETH Zürich in einer neuen Studie zum Stoffwechsel von Bakterien hin.

Fabio Bergamin
Evolutionäre Kräfte in Bakterien: Escherichia coli (Bild: NIAID / Creative Commons)
Evolutionäre Kräfte in Bakterien: Escherichia coli (Bild: NIAID / Creative Commons) (Grossbild)

In der Evolution kommt es ständig zu Kompromissen. Denn die Triebkräfte, die sie beeinflussen, sind vielfältig und oft gegensätzlich. Ein in der Evolution optimal angepasster Leopard beispielsweise muss nicht nur muskulös sein, um schnell sprinten zu können, sondern gleichzeitig auch leicht und agil, um gut auf Bäume klettern zu können. Und was für den Leoparden gilt, gilt für alle Lebewesen: In der Evolution wird der Organismus als Ganzes optimal an seine Umgebung angepasst und nicht bloss bezüglich eines einzelnen Kriteriums.

Forschende der ETH Zürich haben nun erstmals mit einem Beispiel gezeigt, wie solche Kompromisse in der Evolution im Detail geschlossen werden. Sie zeigten dies anhand des Stoffwechsels von Bakterien. Auch dort wirken mehrere Triebkräfte auf die Evolution, wie Wissenschaftler unter der Leitung von Uwe Sauer, Professor am Institut für Molekulare Systembiologie, zeigen konnten. Die Forscher haben zudem herausgefunden, welches im Stoffwechsel von Bakterien die zentralen evolutionären Kräfte sind, und wie sie miteinander wechselwirken.

Lange haben sich Biologen gewundert, wieso Bakterien scheinbar Ressourcen verschwenden, wenn man zum Beispiel nur das Zellwachstum als Evolutionsziel betrachtet. Indem die ETH-Wissenschaftler mehrere relevante Evolutionskriterien berücksichtigten, konnten sie nun zeigen, dass Bakterien ihre Nährstoffe grundsätzlich nahezu optimal einsetzen. «Die Evolution hat dafür gesorgt, dass die Mikroorganismen keine Ressourcen verpuffen», sagt Sauer.

Seilziehen mit drei Kriterien

Für ihre Studie analysierten Sauer und seine Kollegen Messdaten zum Stoffwechsel des Bakteriums Escherichia coli sowie von anderen Bakterien. Sie kultivierten die Mikroorganismen mit Nährstoffen, deren Kohlenstoffatome markiert waren. So konnten sie untersuchen, wie die Bakterien ihre Ressourcen einsetzen. «Die Messungen sind vergleichbar mit einer Verkehrsflussmessung in einer Stadt wie Zürich, bei der es darum geht, herauszufinden, auf welche Strassen sich der morgendliche Strom von Autopendlern verteilt», sagt Sauer.

Mit einer mathematischen Auswertung dieser Daten konnten sie aus einer Liste von mehreren Dutzend Evolutionskriterien die für den Stoffwechsel der Bakterien zentralen bestimmen. Es sind dies deren drei: Der Stoffwechsel der Bakterien muss Nährstoffe so umsetzen können, dass der Bakterienbestand erstens möglichst stark wachsen kann. Zweitens soll den Bakterien neben dem Wachstum möglichst viel Energie für die Lebensfunktionen zur Verfügung stehen. Und drittens sollen die Bakterien die Stoffe auf effiziente Weise mit möglichst wenigen Reaktionen umsetzen. Diese drei Kriterien sind möglicherweise für Bakterien universell gültig. Denn die Forscher konnten zeigen, dass sie nicht nur für Escherichia coli zentral sind, sondern auch für eine ganze Reihe weiterer Bakterien.

Optimal durch Evolution

Dass die Bakterien sehr effizient sind und bezüglich der Gesamtheit der drei Ziele das Optimum herausholen, vergleicht Sauer mit einer optimierten Volkswirtschaft. Aus den Wirtschaftswissenschaften kommt auch der Begriff, den die Biologen verwenden: Pareto-Optimalität. Diese besagt, dass es in einer Volkswirtschaft mit begrenzten Ressourcen mehrere Möglichkeiten gibt, von mehreren Gütern so viel zu produzieren, dass die Ressourcen optimal ausgeschöpft werden. «Mit dem Stoffwechsel von Bakterien verhält es sich ebenso. Auch dieser ist Pareto-optimal», so Sauer.

Jedenfalls stimmt das für den Stoffwechsel jener Bakterien, die sich in der Evolution durchgesetzt haben. Mutierte Bakterien, bei denen beispielsweise ein Enzym nicht mehr voll funktionsfähig ist, erreichen das Pareto-Optimum nicht. Sie verschwenden gewissermassen ihre Ressourcen, wie die ETH-Wissenschaftler weiter zeigen konnten. «Erst durch die Evolution strebt der Stoffwechsel der Bakterien auf einen Pareto-optimalen Zustand zu», so Sauer.

Doppelter Kompromiss

Dies ist jedenfalls in den Grundzügen richtig. Bei genauem Hinsehen bemerkten die Forscher, dass ihr Stoffwechsel nur beinahe Pareto-optimal ist. «Der Stoffwechsel ist so eingerichtet, dass sich die Bakterien sehr einfach an sich ändernde Umweltbedingungen anpassen können, wie zum Beispiel das Überleben mit wenig Sauerstoff, wenig Stickstoff oder wenig Kohlenstoff», sagt Sauer. Die Anpassungsfähigkeit geht auf Kosten einer perfekten Ressourcenausbeute. «Für den Vorteil der Flexibilität verzichten die Bakterien darauf, wirklich alles aus den Nährstoffen heraus zu holen», so Sauer.

Der Stoffwechsel der Mikroorganismen ist also sogar ein doppelter Kompromiss: Erstens ein Kompromiss zwischen drei Optimalitätskriterien und zweitens einer zwischen optimalem Einsatz und Flexibilität. Dieser kompromissfähige und flexible Stoffwechsel ermöglichte den Bakterien, zu dem zu werden, was sie heute sind: äusserst erfolgreiche Lebewesen, die auf jedem Winkel der Erde präsent sind – eine biologische Supermacht sozusagen, um in der wirtschaftswissenschaftlichen Begrifflichkeit zu bleiben.

Literaturhinweis

Schütz R, Zamboni N, Zampieri M, Heinemann M, Sauer U: Multidimensional Optimality of Microbial Metabolism. Science, 2012, 336: 601-604, doi: 10.1126/science.1216882