Veröffentlicht: 15.06.11
Campus

Massnehmen am Menschen

Was ist der Mensch? Eine Frage, die immer wieder neue Antworten findet. Ein aktuelles Buch aus dem Collegium Helveticum befasst sich mit der Konturierung des Menschlichen in den Wissenschaften. An der Vernissage diskutieren eine Historikerin und ein Mediziner.

Martina Märki
Aufzeichnen der «Traumlandschaften»: Ein Proband im Schlaflabor.(Bild: iStockphoto LP)
Aufzeichnen der «Traumlandschaften»: Ein Proband im Schlaflabor.(Bild: iStockphoto LP)

Der Mensch macht die Wissenschaften. Machen die Wissenschaften auch Menschen? Spätestens seit dem Zeitalter der Reproduktionsmedizin kann man diese Frage mit einem schlichten Ja beantworten. Doch auch viele andere Wissenschaftszweige arbeiten am Menschen, zumindest im übertragenen Sinn, etwa indem sie unsere Vorstellung über das Wesen des Menschen beeinflussen. Wie sich das Menschenbild unter dem Blick verschiedener wissenschaftlicher Zugriffe wandelt und welchen Einfluss dies auf Mensch und Gesellschaft hat, lässt sich nachlesen in der neuesten Buchpublikation des Collegium Helveticum, die heute Abend anlässlich einer Vernissage in der Semper-Sternwarte vorgestellt wird.

Normierung noch im Schlaf

Das Buch, entstanden aus einem mehrjährigen interdisziplinären Forschungsprojekt am Collegium, bietet einen spannenden Streifzug durch verschiedene Disziplinen. Im Projekt «Tracking the Human» untersuchten Sozial- und Geisteswissenschaftler gemeinsam mit Biologen, Neurowissenschaftlern und Pharmazeuten, welche Modelle vom Menschen in den jeweiligen wissenschaftlichen Zugriffsweisen verborgen sind, was sie erklären und was sie verschleiern, wie sie beschreiben und zugleich zuschreiben.

Dass das Forschen über den Menschen immer auch eine normierende Funktion hat, wird in den Ausführungen der Autorinnen und Autoren immer wieder deutlich, gerade auch dort, wo man es vielleicht am wenigsten erwartet, zum Beispiel im Schlaf. Die wissenschaftlich analysierende Zugriffsweise macht noch aus einem so unbewussten Phänomen wie dem menschlichen Schlaf mit seinen Traumlandschaften eine genau vermessene Landkarte, in der verschiedene Schlafphasen akribisch gemessen und notiert sind. Dies führt schliesslich dazu, dass der sogenannte «natürliche» Schlaf – als der von der Wissenschaft vorgestellte ideale Schlaf – für viele moderne Individuen ein schier unerreichbares Ziel bleibt, dem wiederum mit wissenschaftlicher Hilfe nachgejagt wird. Die Darstellung der Kulturanthropologin Emily Martin zur Geschichte des Schlafs gipfelt in der Beschreibung von Medikamenten, die dem schlafgestörten Menschen der Moderne nicht nur zum richtigen Schlaf verhelfen sollen, sondern auch gleich noch zu den richtigen Träumen. Der Zugriff auf den Menschen im Schlaf scheint zunehmend total.

Der molekularisierte Mensch

Paradoxerweise geht dieser totale Zugriff mit einem Phänomen einher, dass den Menschen als Ganzes erst einmal aus dem Blickfeld verschwinden lässt. «Der Blick der heutigen Pharmazeuten ist auf ein einzelnes Molekül gerichtet», schreibt Gerd Folkers, Professor für pharmazeutische Chemie an der ETH Zürich und Direktor des Collegium Helveticum, die Arbeitsweise der Medikamentenhersteller. Erst diese reduktionistische Sichtweise machte Drug Design und damit viele unserer modernen Medikamente möglich. Die damit einhergehende Folge: Krankheiten werden heute, wenn immer möglich, auf molekularer Ebene erklärt.

Wie sich diese Sichtweise auf die Behandlung und Prävention von Herzinfarkten ausgewirkt hat, zeigt anschaulich der Beitrag von Viviane Otto, Privatdozentin für pharmazeutische Biochemie an der ETH Zürich. Die molekulare Sichtweise führte dazu, dass ein bestimmtes Stoffwechselprodukt, bereits im 18. Jahrhundert entdeckt, im 20. und 21. Jahrhundert zu ungeahnter Popularität kam, nämlich das Cholesterin. Cholesterinwerte im Blut wurden zum messbaren Signal für die Wahrscheinlichkeit eines Herzinfarkts. Gleichzeitig entwickelte sich eine intensive Suche nach Wirkstoffen, die ungünstige Cholesterinwerte senken sollten. Gefunden wurden die sogenannten Statine, eine der kommerziell erfolgreichsten Medikamentengruppe aller Zeiten, wie die Autorin schreibt. Die Pharmafirma Pfizer beispielsweise erzielt die Hälfte ihres Gesamtumsatzes mit einem solchen Medikament. Da der Patentschutz auf dieses Medikament dieses Jahr jedoch ausläuft, sind Pfizer und andere Pharmaunternehmen intensiv auf der Suche nach einem neuen Wirkstoff. Wegleitend ist die Erkenntnis, dass es verschiedene Cholesterine gibt. In der Öffentlich pauschal bekannt wurden sie als schlechte und gute Cholesterine.

Man konzentriert sich nun auf den Versuch, sogenannte gute Cholesterine medikamentös zu fördern. Ein Versuch, der im Tierversuch offenbar erfolgreich, am Menschen bisher zum Scheitern verurteilt war. Eine entsprechende klinische Phase III Studie mit über 15000 Patienten musste wegen gehäuft auftretenden Todesfällen abgebrochen werden. Ein herber Rückschlag für die Pharmaindustrie und für potenziell Herzinfarktgefährdete. Die scheinbar so einfache und einsichtige Cholesterinhypothese könnte damit ins Wanken geraten.

«Es wäre auch die Veränderung aller Lebensumstände zur Therapie einer Erkrankung in Betracht zu ziehen, statt auf einzelne molekulare Parameter zu fokussieren, die nur dienlich sind innerhalb der Genauigkeitsgrenzen ihrer Bestimmung und nicht der Relevanz für das Individuum in seiner Gesamtheit», schreibt Gerd Folkers. Ein Satz, der nicht nur in Bezug auf die Herzinfarktforschung beherzigenswert scheint.

Modell Mensch

Anlässlich der Buchvernissage diskutieren Caroline Arni, Assistenzprofessorin für Neuere und Neueste Geschichte zu Phänomenen des gesellschaftlichen Wandels an der Universität Basel, und Professor Max Gassmann, Leiter des Instituts Veterinärphysiologie der Universität Zürich, Menschenbilder in den Wissenschaften.

Semper-Sternwarte, Schmelzbergstrasse 25, 8006 Zürich
Mittwoch, 15. Juni 2011, 18 bis 20 Uhr

Modell Mensch: Konturierung des Menschlichen in den Wissenschaften, hg. von Rainer Egloff, Priska Gisler und Beatrix Rubin. Edition Collegium Helveticum Band 7. Zürich, Chronos 2011. ISBN 978-3-0340-1075-7

 
Leserkommentare: