ETH als wesentlicher Teil des Lebens
Er hat einen Grossteil seines Lebens und seines Schaffens der ETH gewidmet: Alt-ETH-Präsident Hans Bühlmann wird dieser Tage 80 Jahre alt. Der noch immer aktive Mathematiker über seinen Beitrag an der Schaffung der zweiten Säule, sein Fach und die Zukunftsaussichten von heutigen Mathe-Studierende.
Herr Bühlmann, Sie
werden demnächst 80, sind aber noch regelmässig an der ETH anzutreffen. Woran
forschen Sie?
Ich arbeite nach wie vor an Themen der Versicherungsmathematik. Das habe
ich mein ganzes Leben lang gemacht. Ich mache natürlich nicht mehr so viel wie
früher, publiziere aber noch Artikel, vor allem zusammen mit jüngeren Kollegen.
Welche Fragen sind
aktuell?
Aktuell sind Fragen nach der Solvenz von Versicherungsgesellschaften, so
zum Beispiel welche Regeln gelten sollen, damit Versicherungen ihren
Verpflichtungen nachkommen können. Dafür braucht es viel mathematischen Input. Das
Versicherungsaufsichtsgesetz wurde vor sieben Jahren neu gemacht. Ich war
damals Mitglied einer begleitenden Task Force. Aufgrund dieses neuen Gesetzes gab
es für die Versicherungen verbesserte Vorschriften bezüglich
Kapitalerfordernis. Damit haben ja aktuell auch Banken Mühe. Sie haben oft zu
wenig Kapital, um sich selbst zu erhalten, wenn etwas passiert. Solche Krisen
sind eine Chance für uns Wissenschaftler. Wir haben dann die Möglichkeit,
intelligentere Gesetze mitzugestalten.
Sie gelten als
geistiger Vater des Pensionskassengesetzes, des BVG, in der Schweiz. Wie kamen
Sie dazu?
Von 1978 bis 1992 war ich Mitglied der schweizerischen AHV-Kommission.
So kam ich in den Bereich Sozialversicherungen hinein. Ich präsidierte eine
Unterkommission, deren Aufgabe es war, jedes Jahr den Index für
die Anpassung der AHV-Rente zu berechnen. Beim BVG wurde ich mit zwei anderen Mathematikern
als Experte hinzugezogen, um bei der Beratung des Gesetzes mitzuwirken.
Wie waren Ihre
Erfahrungen?
Die Übung war interessant. Man hörte auf uns. Meine politische Erfahrung
daraus war jedoch nicht so positiv. Wie alle anderen, also auch die Politiker, stellte
ich mir ein Gesetz mit einer einfachen Struktur vor. Am Ende des
Gesetzgebungsprozesses war das Resultat ein unglaublich kompliziertes Gesetz.
Wieso?
Weil jeder noch etwas einbauen und jede Eventualität geregelt haben
wollte.
Hat sich das BVG in Ihren Augen trotz allem bewährt?
Alle betrachten es heute als zu kompliziert. Wenn man sieht, welche Kämpfe
man nur schon mit dem Umwandlungssatz beim BVG hat, dann sieht man, dass es
nicht gut läuft. Experten können ihre Meinung kaum mehr einbringen, das Ganze
ist sehr politisch geworden. Das war früher anders. Die Experten hatten einen
guten Stand und waren von politischer Seite akzeptiert. Heute steht Politik im
Vordergrund. Das verhindert das Finden von vernünftigen, teilweise mathematisch
abgestützten Lösungen.
Was bräuchte das BVG?
Eine mathematische Vereinfachung. Ob so was politisch überhaupt noch
machbar ist, ist jedoch fraglich.
Hat Sie an der
Aufgabe, das BVG zu machen, nur der mathematische Teil interessiert?
Nein, schon auch der staatsbürgerliche Teil. Ich war ein junger
Professor, als die 68er-Unruhen losgingen. Wir Professoren lernten aus dieser
Zeit viel. Ich dachte vor den Unruhen, dass ich als ETH-Professor nur dazu da
war, Mathematik zu machen. Durch die politischen Diskussionen jener Zeit lernte
ich, dass wir auch eine öffentliche Aufgabe haben.
Hat man Ihre Dienste
für das BVG aktiv abgerufen?
Die ETH hatte schon immer Dozenten im Bereich Versicherungsmathematik,
die aus der Privat- oder den Sozialversicherungen stammten. Als ich begann, dozierte
auch Professor Ernst Kaiser, der als hoher Beamter des Bundesamtes für
Sozialversicherung Berater des Bundesrats war. Die ETH hatte einen direkten
Draht ins Bundeshaus. Kaiser brachte oft die ETH ins Spiel, wenn es darum ging,
Abklärungen zu halten.
Die ETH hatte demnach
schon immer einen guten Ruf in der Versicherungsmathematik?
Ja, das darf man so sagen. Mein Vorgänger war Professor Walter Saxer. Er hatte
viel gemacht für die Sozialversicherungen in der Schweiz und war international bekannt.
Das sind und waren Sie
auch. Sie waren an vielen Top-Unis Gastprofessor…
… und ich habe fünf Ehrendoktorate, wobei die viel einfacher zu erringen
waren als der richtige Doktortitel (lacht)!
Was war das Thema Ihrer Dissertation?
Ich war einer der ersten, der an der ETH auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie
doktorierte. Mein damaliger Professor, Walter Saxer, sagte mir, dass dies an
der ETH keiner verstehe, also solle ich im Ausland meine Diss schreiben. Eine
gute Hochschule weiss auch, was sie nicht weiss (lacht). Saxer schickte mich in
die USA an die University of California in Berkeley, wo ich meine Dissertation verfasste.
Den Titel erhielt ich dann trotzdem von der ETH.
Was machten Sie nach
Ihrer Rückkehr nach Zürich?
Als ich wieder zurückkam, arbeitete ich eine Weile in der
Versicherungsindustrie bei der Schweizer Rück, heute SwissRe, ehe ich definitiv
an die ETH zurückkehrte ...
… wo Sie Professor
wurden …
... ich kam von der ETH nie los …
… und später auch
ETH-Präsident.
Offensichtlich hat es mir an der ETH gut gefallen! Im Ernst: Die ETH ist
ein wesentlicher Teil meines Lebens.
Übernahmen Sie das Amt
gerne?
Ich musste mich ein bisschen durchringen, hatte aber das Gefühl, dass
ich das machen wollte. Nachträglich war ich froh, dass ich es gemacht hatte,
denn es ist ein interessantes Amt.
Welchen
Herausforderungen mussten Sie sich als Präsident stellen?
Der Hauptschritt war, dass während meiner Amtszeit die Departemente
eingeführt wurden. Vorher gab es Abteilungen, organisiert nach dem Unterricht. Die
Schulleitung wollte aber neue Gefässe, die sich an der Forschung orientierten. Eine
Zeit lang waren dann Abteilungen und Departemente parallel vorhanden. Wir waren
der Meinung, dass man schauen müsse, welche Struktur sich durchsetzt. In meine
Zeit als Präsident fällt zudem die Gründung des Centro Stefano Franscini auf
dem Monte Verita und des Rechenzentrums in Manno. Aus diesen Initiativen und
dem, was die Tessiner selbst aufbauten, entstand die heutige Universität der
italienischen Schweiz.
Hatten Sie überhaupt
Zeit für Hobbies und Freizeit?
Mein Hobby war mein Beruf. Ich machte aber immer relativ viel Sport, wie
Bergsteigen. Ich sang in einem Chor, auch während meiner Präsidialzeit. Das war
nützlich für mein seelisches Gleichgewicht. Sobald ich sang, verflog mein Ärger,
wenn solcher vorhanden war.
Sie haben drei Kinder.
Haben diese Ihre mathematischen Fähigkeiten geerbt?
Eine Tochter ist Primarlehrerin, ein Sohn Architekt. Der jüngste Sohn
ist ebenfalls Mathematiker und heute Professor am Seminar für Statistik an der
ETH. Er beschäftigt sich jedoch mit einem ganz anderen Bereich als ich. Er
arbeitet mit Biologen in der Genomik.
Zu Ihrem Geburtstag
gibt es am 26.1. ein Fest-Symposium im Ausbildungszentrum der SwissRe in Rüschlikon.
Was erwarten Sie?
Ich freue mich darauf, viele Leute zu sehen, die ich längere Zeit nicht
gesehen habe. Ein Vortrag wird gehalten von einem meiner Doktoranden, René
Schnieper. Er ist heute Mitglied der Geschäftsleitung der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht Finma und beschäftigt
sich mit der Versicherungsseite. Da bin ich gespannt, was er erzählt. Natürlich
interessieren mich auch die anderen Vorträge.
Was muss ein Maturand
können, wenn er Mathematik studieren will?
Ich glaube, er muss vor allem Freude am logischen Denken und am
Konstruieren von Gedankengebäuden haben. Mathematik ist eine kreative Arbeit. Es
braucht gar nicht so viele spezifische Fähigkeiten. Klar muss man später auch
mit dem Computer umgehen können, das aber ist nicht fachspezifisch.
Welche
Zukunftsaussichten haben junge Mathematiker?
Es gibt sehr viele Zukunftschancen, wenn man bereit ist, Mathematik
breit anzuwenden. Leute finden in der Regel ohne Probleme eine Stelle, wenn sie
bereit sind, in der angewandten Mathematik zu arbeiten, und zwar in
Fachgebieten, die vom Maschinenbau bis hin zum Bankenwesen reichen. An der ETH
haben wir viele Studierende der Mathematik, weil bei uns der angewandte Teil gut
ausgebaut ist.
Hans Bühlmann, geboren am 30. Januar 1930, war ab 1966 ordentlicher Professor für Mathematik an der ETH Zürich. Von 1973 bis 1977 war er Präsident der Forschungskommission der ETH. 1981 bis 1985 stand er dem Mathematikdepartement vor, von 1987 bis 1990 war er Präsident der ETH. Er emeritierte 1997.
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