Veröffentlicht: 20.04.09
Endlagerung radioaktiver Abfälle

«Auch Forscher durchleuchten Nagra-Studien kritisch»

ETH-Professor Simon Löw ist Präsident der Kommission Nukleare Entsorgung (KNE). Diese berät die Bundesbehörden in geologischen Fragen zur Endlagerung radioaktiver Abfälle. Ein Endlager für schwach- und mittelaktive Abfälle könnte laut Löw aus wissenschaftlicher Sicht schon heute gebaut werden. Für hochaktive Abfälle bedürfe es jedoch weiterer Forschung, an welcher sich neben der NAGRA verstärkt auch die Hochschulen beteiligen müssten.

Interview: Samuel Schläfli

Herr Löw, seit 30 Jahren ist der Bund gemeinsam mit den Atomkraftwerk-Betreibern auf der Suche nach einem Standort für die Endlagerung von radioaktiven Abfällen. Weshalb hat man diesen bis heute nicht gefunden?

Das hat vor allem mit den politischen Rahmenbedingungen in der Schweiz zu tun. Die direkte Demokratie, mit einem hohen Mass an Mitspracherecht von Verbänden und Bürgern, macht das Verfahren komplizierter als in anderen Staaten. Zudem sind bei uns das allgemeine Sicherheitsbedürfnis und die Erwartungen an den qualitativen Kenntnisstand rund um die Endlagerung im internationalen Vergleich sehr hoch.

Würden Sie aus wissenschaftlicher Sicht schon heute grünes Licht für den Bau eines Endlagers geben?

Ja, solange es sich um ein Lager für schwach- und mittelaktive Abfälle handelt. In der Schweiz hat man im Vergleich mit dem Ausland – das zum Teil schon solche Endlager betreibt – einen exzellenten Kenntnisstand. Was die Schweiz und vor allem die «Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle», die Nagra, in den letzten 30 Jahren punkto wissenschaftlicher Arbeit geleistet haben, ist im internationalen Vergleich sowohl qualitativ als auch quantitativ aussergewöhnlich.

Und für ein Lager von hochaktiven Abfällen?

Nein, dafür müssen noch wichtige offene Fragen geklärt werden, auch wenn der Entsorgungsnachweis, also der Nachweis der grundsätzlichen Machbarkeit, auch für diese Abfälle erbracht ist.

Wie ist das Mengenverhältnis von schwach- und mittelaktiven Abfällen zu hochaktiven Abfällen in der Schweiz?

90 Prozent der Schweizer Abfälle, also rund 90‘000 Kubikmeter, sind schwach- und mittelaktiv. Die restlichen zehn Prozent hochaktiver Abfall machen aber 99 Prozent der Gesamt-Radiotoxizität des Schweizer Abfalls aus. Diese Abfälle sind vom Gefahrenpotenzial her nicht miteinander zu vergleichen. Deshalb gibt es weltweit viele Endlager für schwach- und mittelaktive Abfälle, jedoch nur zwei für hochaktiven Abfall.

Vergangenen November hat das Bundesamt für Energie die Vorschläge für Standortgebiete bekannt gegeben, die sich gemäss Nagra für den Bau von Tiefenlagern eignen. Die Nagra glaubte schon einmal, einen optimalen Standort für ein Endlager gefunden zu haben. Weshalb kommt sie nun mit neuen Vorschlägen?

Das ist das Produkt einer zähen politischen Auseinandersetzung. Vor 14 Jahren meinten die Nagra und viele Politiker, einen Standort für schwach- und mittelaktive Abfälle gefunden zu haben: den Wellenberg. Dieser Vorschlag wurde aber 1995 in einer kantonalen Abstimmung abgelehnt. Wir müssen uns vor Augen halten: Der Vorschlag Wellenberg wurde nicht aus sicherheitstechnischen Gründen verworfen, sondern weil eine Mehrheit der Kantonsbevölkerung dieses Endlager nicht wollte.

Drehen wir uns also im Kreis?

Die Suche nach möglichen Standorten für ein Endlager ist ein vergleichsweise kleines Problem. Geologen können relativ einfach beurteilen, welche Standorte sich innerhalb der Schweiz für eine Aufbewahrung von radioaktivem Abfall eignen. Dabei geht es in erster Linie um einen relativen Vergleich mit klaren Kriterien, wie sie im «Sachplan geologische Tiefenlager» von der Behörde vorgegeben wurden. Das Schwierige ist, die Sicherheit absolut zu beurteilen. Hier beschreiten wir Neuland, da wir nicht, wie zum Beispiel beim Tunnelbau, auf lange Erfahrung zurückgreifen können.

Welche Rolle spielt die Revision des Kernenergie-Gesetzes für den neuen «Sachplan geologische Tiefenlager», anhand dessen der Bund einen Standort auswählen möchte?

Eine sehr bedeutende, denn sie hat die Verantwortlichkeiten neu definiert. So ist jetzt das Bundesamt für Energie im Prozess federführend. Das heisst, der Bund präsentiert die vorgeschlagenen Standortgebiete und nicht mehr wie vor 14 Jahren die Nagra, also die Vertreter der Kernenergie-Industrie. Der Bund hat aus der Vergangenheit gelernt und übernimmt heute in dieser Hinsicht viel mehr Verantwortung.

In der Vergangenheit wurde dem Bund jedoch oft vorgeworfen, dass die Forschung der Nagra von zuwenig unabhängigen Stellen kontrolliert wird. Wer schaut der Nagra heute auf die Finger?

Dafür ist das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI zuständig, das als unabhängige Behörde die Vorschläge der Nagra für den Bundesrat prüft. Und natürlich die ausserparlamentarischen Kommissionen, wie die Kommission Nukleare Entsorgung KNE.

Haben Sie als Präsident der KNE sämtliche Nagra-Berichte überprüft und für gut befunden, bevor die möglichen Standorte im vergangenen November öffentlich kommuniziert wurden?

Nein. Die Nagra und das Bundesamt für Energie haben im November 2008 die Auswahl der Nagra kommuniziert. Die KNE und das ENSI haben nun den Auftrag, zu den Nagra-Berichten innerhalb eines Jahres Stellung zu nehmen. Das heisst, die präsentierten Standorte sind nur die Vorschläge der Entsorgungspflichtigen.

Es wäre also durchaus möglich, dass das ENSI und die KNE bei der Bewertung der möglichen Endlagerstandorte zu anderen Ergebnissen kommen als die Nagra.

Ja, das ist möglich. Der Prozess der Endlagerfindung geht erst in die nächste Etappe, wenn wir die Nagra-Berichte geprüft haben. Unsere Bewertung ist ein fester Bestandteil des dreistufigen Sachplanverfahrens. Die Öffentlichkeit muss wissen, dass die Studien der Nagra nicht nur von den Aufsichtsbehörden des Bundes und verschiedenen Nicht-Regierungsorganisationen kritisch durchleuchtet werden, sondern auch von vielen Wissenschaftlern der Schweizer Hochschulen. Die KNE versteht sich dementsprechend auch als Fürsprecher für die Bevölkerung in Sachen Endlagerung.

Trügt der Schein oder stehen der Nagra wesentlich mehr Mittel für die Forschung im Bereich der Endlagerung zur Verfügung als den Forschern der ausserparlamentarischen Kommissionen?

Tatsächlich ist das vom Bund vergebene Budget für die Forschung im Bereich der nuklearen Entsorgung innerhalb des ENSI und der KNE beschränkt und liegt in der Grössenordnung von einigen 100‘000 Franken im Jahr. Hier besteht ein Ungleichgewicht und Handlungsbedarf. Denn obwohl in der KNE sehr viel Wissen rund um geologische und sicherheitstechnische Aspekte eines Tiefenlagers versammelt ist, forschen die wenigsten meiner Kollegen direkt auf dem Gebiet der Endlagerung von radioaktiven Abfällen. Für direkte Endlager-bezogene Forschung ausserhalb der Forschung der Entsorgungspflichtigen bräuchte es grössere Budgets.

Befürworten Sie also parallele Forschung an den Hochschulen und von der Nagra?

Ja, denn sie bildet die Basis für die Fachkompetenz der Behörden. Forscher der ausserparlamentarischen Kommissionen sollten sich nicht auf die Gedanken der Nagra alleine stützen müssen. Die Nagra-Forschung ist zwar sehr gut und wichtig, aber es braucht gleichzeitig unabhängige Forschung zu Entwicklungen und Prozessen im Nahbereich eines Endlagers. Wissenschaftler müssen aufgrund eigener Ergebnisse zu eigenen Erkenntnissen gelangen.

Wer sollte solche Budgets zur Verfügung stellen?

Einerseits das ENSI, vielleicht auch der Nationalfonds. Bis heute gibt es noch kein nationales Forschungsprogramm «Geologische Tiefenlagerung», was jedoch durchaus sinnvoll wäre. Ein entsprechender Antrag wird zurzeit wieder diskutiert.

Wie geht es nun mit der Suche nach Endlager-Standorten weiter?

Bisher wurden erst mögliche Standortregionen von der Nagra vorgeschlagen; wir befinden uns nach wie vor in der ersten Etappe eines dreistufigen Prozesses. Die Auswahl wird nun kontinuierlich eingeschränkt, bis der Bund in rund zehn Jahren – so ist es im «Sachplan geologische Tiefenlager» vorgesehen – definitiv entscheidet.

Zurzeit erleben wir europaweit eine Renaissance der Atomenergie. Sind Atomkraftwerke für Sie auch langfristig eine passable Energieoption und können die dadurch entstehenden Abfälle aus geologischer Sicht verantwortet werden?

Das Risiko, ausgehend von Endlagern radioaktiver Abfälle, ist nach heutigen Berechnungen im Vergleich zu anderen Risiken äusserst gering. Noch selten wurde für die Risikoabschätzung und -minderung soviel Forschung betrieben wie auf diesem Gebiet. Wir müssen heute Risiken und Chancen genau abwägen: Ich erachte den Klimawandel als unser dringendstes Problem. Wir müssen unseren CO2-Ausstoss sehr rasch drastisch reduzieren und ich glaube nicht, dass wir die steigende Energienachfrage alleine mit alternativen Energien und Energie-Sparmassnahmen abdecken können – auf jeden Fall nicht in der Zeit, die uns zur Verfügung steht.

KNE-ENSI Symposien

Die Kommission Nukleare Endlagerung (KNE) hat als unabhängiges Expertengremium des Bundes die Aufgabe, das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) und das Bundesamt für Energie (BFE) in geologischen und sicherheitstechnischen Fragen der nuklearen Entsorgung zu beraten. Neun Experten aus den Gebieten Geologie, Ingenieur- und Umweltwissenschaften überprüfen und beurteilen dazu Unmengen von Berichten, Analysen und Modellrechnungen der «Nationalen Genossenschaft für die Entsorgung radioaktiver Abfälle» (Nagra) und verfassen unabhängige Stellungnahmen.
Seit Anfang Jahr veranstalten die KNE und das ENSI an der ETH Zürich öffentliche eintägige Symposien zu unterschiedlichen erdwissenschaftlichen Themen, die zur Findung von Standorten geologischer Tiefenlager für radioaktive Abfälle relevant sind. Die Symposien richten sich an Fachleute aus verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten. Am 21. Januar 2009 fand das erste Symposium zum Thema glaziale Tiefenerosion und geologische Tiefenlager statt. Die nächste Veranstaltung am 5. Mai widmet sich dem Thema Neotektonik-Erdbeben in der Nordwestschweiz.
Das Programm zum Symposium und mehr Informationen zur KNE unter http://www.kne-schweiz.ch

Ingenieurgeologe an der ETH

Simon Löw ist Professor für Ingenieurgeologie am Geologischen Institut der ETH Zürich. Er präsidiert zudem die KNE und ist seit Februar 2009 Mitglied der Eidgenössischen Geologischen Fachkommission, die den Bundesrat und die Departemente in geologischen Grundsatzfragen und in Fragen zur angewandten Geologie berät. Mehr Informationen zur Professur für Ingenieurgeologie am Geologischen Institut der ETH Zürich: http://www.engineeringgeology.ethz.ch/