Veröffentlicht: 26.09.07
Mittwochskolumne

Erstes ETH-Jahr: gute Tradition oder Relikt in der modernen Hochschule?

Juraj Hromkovic

von Juraj Hromkovic

Das erste Jahr an der ETH verläuft in der Tradition der Polytechnik, die durch harte Anforderungen die Kandidatinnen und Kandidaten aussieben will. Dadurch soll der gute Ruf der Hochschule bestätigt werden und die hohe Begabung und Leistungsbereitschaft und ausserordentliche Professionalität der Studierenden und später der Absolventinnen und Absolventen garantiert werden. Mit der Implementierung dieser simulierten Eingangsprüfung sind wir gut vertraut. Ein Jahr voll von Veranstaltungen ohne einen Prüfungsstein. Und danach kommt die zweite Matura. Alles was im ersten Studienjahr vorgetragen wurde, wird innerhalb weniger Wochen abgeprüft. Ein hartes Vorgehen, das mit Sicherheit ein starker Filter für den Zugang zum ETH-Studium ist. Aber garantiert es eine gute Auswahl? Bleiben wirklich gerade die kreativen Studentinnen und Studenten, die wir gerne hätten? Ist das ins kalte Wasser Werfen heute noch eine didaktisch vertretbare Methode zur Studierendenauswahl?

In gewissem Sinne überprüft das erste Jahr an der ETH die Leistungsbereitschaft der Studentinnen und Studenten. Dabei stellt sich aber die Frage, ob dies ausreicht und um welche Art der Leistungsbereitschaft es sich handelt. Eine Unmenge von Stoff in kurzer Zeit zu prüfen, führt zur Oberflächlichkeit. Um durchzukommen, müssen die Studierenden sehr viel zu einem gewissen, nicht sehr hohen Grad wissen. Tiefgehendes Wissen, das zu hoher Professionalität und Meisterschaft führt, ist dabei jedoch fast ausgeschlossen. So ist denn auch die Nachhaltigkeit des Studiums im ersten Jahr niedrig – viel vom Stoff ist in den späteren Studienjahren nicht mehr abrufbar. Gleichzeitig verlieren wir vielleicht begabte und arbeitswillige junge Leute, die nur scheitern, weil sie nicht bereit sind, eine Unmenge von Kenntnissen oberflächlich zu lernen. Auch wenn wir diesen Verlust in Kauf nehmen, verursachen wir Schaden – und zwar auch an der Einstellung der erfolgreichen Studierenden zu professioneller Tätigkeit. Wir trauen unseren eigenen Gymnasien nicht zu, durch die Matura eine gute Auswahl für den Zugang zum Hochschulstudium zu treffen. Anderseits nehmen wir das Risiko in Kauf, einige gute gymnasiale Gewohnheiten, wie z.B. das Streben nach einem vollständigen Verständnis des behandelten Stoffes, zu verlieren.

Wir sollen uns auch fragen, mit welchen Erwartungen junge Leute an die ETH kommen. Suchen sie nicht eine Herausforderung mit dem Ziel, etwas Besonderes, etwas mit Tiefgang zu meistern? Könnte es nicht sein, dass unter diesen Umständen bei diesen Erwartungen das erste Jahr ein bisschen enttäuschend ist?

Bei den Studierenden herrscht Unsicherheit, weil sie genau wissen, dass etwa die Hälfte von ihnen im ersten Jahr scheitern wird. Gleichzeitig haben sie nicht die Möglichkeit, einzuschätzen, wo sie in der Vorbereitung stehen, ob diese genügt, um die Prüfung zu bestehen. Darunter leiden besonders die Studentinnen. Wir wissen aus dem Gymnasialunterricht, dass jene Fächer bei jungen Frauen und Mädchen besonders unbeliebt und frustrierend sind, bei denen die Zielsetzung und der Weg zu ihrer Erreichung unübersichtlich bleibt. Entsprechend leiden unsere Studentinnen unter der Prüfungspraxis des ersten Studienjahres stärker als ihre männlichen Kollegen. Widerspricht es nicht unseren Bemühungen im Rahmen der Frauenförderung, mehr junge Frauen für das Studium an der ETH zu gewinnen?

Seien wir ehrlich: Wie viele Dozierende reduzieren ihre Anforderungen nach der schriftlichen Prüfung oder sogar im Voraus, um zu hohe Durchfallsquoten zu vermeiden? Haben wir tatsächlich hohe Anforderungen an die Beherrschung des Stoffes im ersten Studienjahr?

Wir leben in einer immer schnelleren Zeit mit einer falschen Vorstellung von Effizienz. Sich gut darzustellen wird oft als genauso wichtig oder sogar wichtiger betrachtet als die eigene Professionalität. Immer mehr will man an sich unmessbare Qualität mittels quantitativer Werte messen. Die Versuche, die gleiche Arbeitsmenge mit weniger Ressourcen zu schaffen, führen unausweichlich zum Qualitätsverlust. Sollte aber nicht gerade die ETH Zürich als einer der Qualitätsgaranten der Schweiz dagegen steuern und der Gesellschaft den Weg weisen? Weniger ist manchmal mehr und genau deshalb sollte „weniger Stoff, aber tief gemeistert“ unser Kredo sein.

Es geht jetzt nicht nur darum, dass es sinnvoll wäre, im ersten Studienjahr die Prüfungen auch Semester begleitend durchzuführen, sondern es geht auch um das enorme Potenzial, das die ETH besitzt – eben nicht nur an Spitzenforscherinnen und -forschern aus aller Welt, sondern auch an jungen Schulabgängerinnen und -abgängern. Die ETH hatte ein enormes Potenzial, das sie sorgfältiger behandeln muss. Leider kann ich nicht mit gutem Gewissen sagen, dass die ETH-Absolventinnen und Absolventen besser sind als jene auf guten europäischen Hochschulen.

Schade eigentlich, denn die Absolventinnen und Absolventen der schweizerischen Gymnasien haben im Durchschnitt die höchste Leistungsbereitschaft, die ich je gesehen habe. Ein Grund dafür ist, dass sich die erwartete Qualität der Bildung an der ETH ihre Stärke erst bei der Masterarbeit und dem Doktorandenstudium zeigt, wo man intensiv mit der Forschung der einzelnen Institute in Kontakt tritt, nicht aber schon vorher. Ich denke, wir sind der Qualität der Lehre im Bachelor-Studium etwas schuldig. Wir müssen nicht nur die Stoffmasse reduzieren, um den Studierenden eine bessere Durcharbeitung des Stoffes zu ermöglichen und zu garantieren. Wir brauchen auch stärkere Kontrollmechanismen, die systematisches und intensives Studium unterstützen und belohnen.

Schwierig? Es gibt Wege, wie man es ohne grosse Ressourcen und umfangreiche Massnahmen erreichen kann: Stellen Sie sich einmal vor, wir würden den Studierenden zusätzliche freiwillige Prüfungen während des Semesters anbieten – unter gewöhnlichen Prüfungsbedingungen. Die Teilnahme wäre eine Belohnung für hinreichende Leistung bei den korrigierten Hausaufgaben. Die Durchschnittsnote, welche die Studierenden in diesen freiwilligen Prüfungen während des Semesters erreichen, kann in der offiziellen Prüfung nicht verschlechtert werden. Sicher, das kostet natürlich ein bisschen mehr Arbeit von Seite der Dozierenden und Assistierenden, aber das Resultat lohnt sich: Die Didaktik sagt uns, dass es keine bessere Motivation zur hohen Leistungen im Studium gibt als der Studienerfolg. Der oben beschriebene Zusatzeinsatz bietet den leistungsbereiten Studentinnen und Studenten bei guter Implementierung genau diesen Studienerfolg. Die bisherigen Experimente in Klassen mit mehreren hunderten Studenten zeigten, dass man damit die Durchfallsquote bei steigenden Prüfungsanforderungen halbieren kann. Zusätzlich: erhöht ein solches systematisch überwachtes Studium die Nachhaltigkeit, der einmal gelernte Stoff bleibt bis zum Ende des Studiums abrufbar.

Sicherlich lässt sich nicht jeder Dozierende auf diesen Zusatzaufwand ein. Ausserdem ist der Erfolg sehr stark von der Implementierung, insbesondere von einem guten Trainingssystem abhängig. Sollte man nicht zumindest die Reglemente so anpassen, dass jedem Dozierenden freigestellt ist, ob sie oder er die freiwillige Prüfung während des Semesters anbieten will? Ein derartiges didaktisches Experiment würde nicht nur die Qualität der Bildung an der ETH erhöhen und der Qualität ihrer Forschungsbeiträge gerecht werden, sondern auch die ETH für Gymnasiastinnen und Gymnasiasten attraktiver machen.

Zum Autor

Juraj Hromkovic ist Professor für Informationstechnologie und Ausbildung an der ETH. Er wurde 1958 in Bratislava in der damaligen Tschechoslowakei geboren, studierte an der Comenius Universität in Bratislava, wo er auch promovierte, sich habilitierte und von 1989 bis 1990 als Dozent arbeitete. Danach arbeitete er als Gastprofessor und ordentlicher Professor in Deutschland, ehe er 2004 dem Ruf an die ETH Zürich folgte und seine aktuelle Professur annahm. Hromokovic’ Forschungsinteressen liegen unter anderem in der Komplexitätstheorie, dem Entwurf von Algorithmen für schwere Optimierungsprobleme oder der Didaktik der Informatik. Er hat mehrere Lehrbücher geschrieben, um den Studenten komplexe Sachinhalte der Informatik näher zu bringen, aber auch um den Transfer der neuesten Forschungsergebnisse in das allgemeine Basiswissen der Informatik und ihrer Anwendung zu beschleunigen. Der Informatikprofessor setzt sich aber auch dafür ein, dass das Hochschulwissen nicht Hochschulabsolventen vorbehalten bleibt. So hat er so genannte Open Classes in Informatik initiiert. Damit versucht er, einer breiten Öffentlichkeit die Geheimnisse der Informatik einzuweihen. Besonders gute Erfahrung hat Hromkovic mit Programmierkursen für Primarschüler gemacht: „Kinder, die schon in der Primarschule ans Programmieren herangeführt werden, haben einen erheblichen Vorteil gegenüber anderen, wenn sie später ein naturwissenschaftliches Fach studieren“, ist er überzeugt. Zu seinen Freizeitbeschäftigungen zählt der zweifache Familienvater Langlaufen, Bergsteigen und Wandern.