Veröffentlicht: 17.05.11
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Stiller geht’s nicht

Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Im Rahmen des Symposiums «Max Frischs Werk im Kontext der europäischen Literatur seiner Zeit», einer Kooperation der Université de Haute-Alsace und der ETH Zürich, sprachen die Publizistin Beatrice von Matt und ETH-Professor Andreas Kilcher über Stillers Identitätskrise.

Alice Werner
Nicht kafkaesk, sondern pirandellesk: Die Publizistin Beatrice von Matt zieht Parallelen zwischen Max Frisch und Luigi Pirandello. (Bild: Alice Werner)
Nicht kafkaesk, sondern pirandellesk: Die Publizistin Beatrice von Matt zieht Parallelen zwischen Max Frisch und Luigi Pirandello. (Bild: Alice Werner) (Grossbild)

Geboren am 15. Mai 1911, wäre Max Frisch gerade hundert Jahre alt geworden. Wer war der Mann mit der riesigen schwarzen Brille, dessen Frauen immer jünger wurden, je mehr er selbst alterte – dieser Jugendautor, der nie erwachsen werden wollte, und auch seinen Romanhelden regelmässig Identitätskrisen auf den Leib schrieb? Zum Jubiläum erscheinen zahlreiche Biografien, Essays, Kommentare und Bildbände, die uns die Welt des Max Frisch erhellen, darunter die Aufsatzsammlung «Mein Name ist Frisch» der Schweizer Publizistin Beatrice von Matt. Über Jahrzehnte begleitete die ehemalige NZZ-Literaturkritikerin den Autor und seine Arbeit kritisch, bis zuletzt, als sie noch einmal an sein «Endbett», wie er es nannte, gerufen wurde.

Von Matt hat das vielseitige Werk des Schriftstellers auf Motive, Bezüge und literarische Einflüsse hin durchforstet. Im Rahmen des dreitägigen Symposiums «Max Frischs Werk im Kontext der europäischen Literatur seiner Zeit», einer Kooperation der Université de Haute-Alsace und der ETH Zürich, sprach von Matt in ihrem Gastvortrag über das Pirandelleske bei Frisch.

Den Nobelpreisträger zumindest quergelesen

Auch wenn Max Frisch kaum je auf literarische Traditionen hingewiesen hat, die er als prägend empfunden haben mag, finden sich in seinen Romanen eine Fülle von intertextuellen Verweisen. In «Stiller» etwa sind Bezüge zum dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, zu Jung, Zollinger und Jünger, zu Goethe, Thomas Mann und Bertolt Brecht belegt. Beatrice von Matt geht davon aus, dass Frisch auch die Romane des italienischen Nobelpreisträgers Luigi Pirandello «zumindest quergelesen hat». Ihre jeweilige Entwicklung als Schriftsteller weist überraschende Parallelen auf, die Lebensthemen ähneln sich – Frisch müsste die Motivik des italienischen Kollegen daher eingeleuchtet haben, sagt von Matt.

Wie werde ich ein anderer?

So wie die Publizistin den «Stiller» zu Pirandellos Roman «Mattia Pascal» in Beziehung setzt, vergleicht und analysiert, gibt diese Vermutung Sinn. In beiden Romanen sind die Fragen der Helden im wesentlichen Ich-Fragen: Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Wie werde ich ein anderer? Das Verhältnis von Freiheit, Individualität und gesellschaftlicher Zuschreibung gilt es neu zu definieren. Bei Frisch möchte sich Anatol Ludwig Stiller in James Larkin White verwandeln, die Schweizer Vergangenheit gegen eine amerikanische austauschen. «Ich bin nicht Stiller!» – Mit diesen Worten wehrt er sich heftig gegen seine Identifizierung als der verschollene Zürcher Bildhauer, der er einmal war. Am Ende aber scheitert der Versuch einer Neugeburt. Die Gesellschaft, sogar die Justiz verurteilt ihn zu seinem alten Leben; Stiller muss wieder Stiller sein.

Auch Pirandellos Ich-Erzähler Mattia Pascal glaubt sich durch die Annahme einer neuen Identität von seinem bisherigen Leben befreien zu können – doch auch ihm gelingt der Neubau seines Lebenslaufs nicht: Reumütig kehrt er in sein Heimatdorf zurück. Und wie im Mantra wiederholt er immer wieder: «Ich bin Mattia Pascal.» Schreibend versuchen beide Romanhelden schliesslich, ihre eigene Wahrheit zu rekonstruieren.

Verwandte Paradestücke der Ich-Diffusion

«Die Freiheitsutopie, die Frisch und Pirandello entwerfen und für ihre Helden einfordern», meint Beatrice von Matt, «wird nicht bis zum bitteren Ende durchgezogen.» Stiller und Mattia Pascal stecken zu tief in ihrer Biografie, in Erinnerung und Vergangenheit fest, als dass der Ausbruch in ein selbstbestimmtes Leben dauerhaft glücken könnte. «Sie bleiben Opfer ihrer eigenen Anstrengungen und enden in beckettscher Einsamkeit.» Davon erzählen auch die drei verblüffend ähnlichen Selbstmordversuche der Figuren: Zunächst ein falsch gemeldeter, dann ein fingierter und schliesslich ein misslungener.

«Stiller» und «Mattia Pascal»: Für die Frisch-Expertin von Matt sind die Romane eng verwandte Paradestücke der Ich-Diffusion, die ihrerseits wieder auf die Masken- und Verstellungskomödien der deutschen Romantiker zurückgehen. Wir leben in einem «Zeitalter der Reproduktion» sagt Stiller im Roman. Heutzutage müsse man Kafka und Proust nicht selbst gelesen haben, es reiche, wenn man sich in Zeitungen über die Werke informiere. Kannte Max Frisch Pirandello also doch nur vom Hörensagen? «Möglich», sagt Beatrice von Matt und hebt die Schultern. Verwandte im Geist seien sie trotzdem.

Genauso, wie von Thomas Mann beschrieben

In einem zweiten Vortrag führt Andreas Kilcher, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich, dessen Basisbiografie zu Leben, Werk und Wirkung von Max Frisch demnächst bei Suhrkamp erscheint, die diffuse, «elliptische Identitätsfindung des Anatol Ludwig Stiller» näher aus. Kilcher geht es weniger um die intertextuellen Bezüge an sich, als um das poetologische Konzept dieser Bezüglichkeit – «die im Roman ja offen zur Sprache kommt.» Etwa wenn Stiller über das Sanatorium in Davos, in dem sich seine Frau von der Tuberkulose erholen soll, urteilt: Es ist genauso, wie von Thomas Mann beschrieben.

«Stiller ist von Frisch als Medium literarischer, textueller Zirkulation angelegt», erklärt Kilcher. Doch die Wiederholung und Wiederaufnahme von Textteilen und Informationen, die vielen Zitate und Reproduktionen, würden gerade nicht zur Stärkung der genuinen Identität führen, sondern zu einer «Teilung und Vervielfältigung der Person Stiller», zu Disparatheit und Verunsicherung. Nicht umsonst wird Stiller im Roman oft «der Verschollene» genannt, ein Zeichen der verlorenen Zugehörigkeit.

«Wir schwimmen in einem Cocktail»

Auf karnevaleske, fast unheimliche Weise spiegelt sich diese fehlende Verortung in der Welt in Stillers Bibliothek wieder. «Von zwei verschiedenen Romanfiguren wird dem Leser die Buntscheckigkeit der Büchersammlung vorgeführt», sagt Kilcher. Da finden sich Rechtsschriften neben kommunistischen Manifesten, Klassiker der philosophischen und belletristischen Literatur, Hitler steht à côté Gandhi, es finden sich Schweizer Lyriker, spanische Lexika, eine Masse an Zeitungen und nie zurückgebrachte Bücher aus der öffentlichen Bibliothek. Ein literarischer Kosmos ohne feste Koordinaten, der keinen Rückschluss auf Stillers Wesen, keinen geistigen Steckbrief erlaubt. In der Figur Stiller, so Kilcher, überkreuzen sich die unterschiedlichsten Stimmen – oder wie Stiller es selbst ausdrückt: «Wir schwimmen in einem Cocktail, der ungefähr alles enthält, und nicht einmal unsere Erzählungen heissen etwas.»

Ganz anders das Werk von Max Frisch: Eben jenes literarische Zeugnis umfassender Zerrissenheit verhalf dem Schweizer Schriftsteller 1954 zum internationalen Durchbruch: «Stiller» ist bis heute ein Welterfolg von umfassender Wucht.