Veröffentlicht: 15.03.11
Aktuell

Japan droht nukleare Katastrophe

Erst das Beben, dann der Tsunami, jetzt die Atomkatastrophe: Was sich in Japan ereignet hat, ist unvorstellbar. ETH-Experten geben gegenüber ETH Life ihre Einschätzung zur aktuellen Lage.

Thomas Langholz, Christine Heidemann und Peter Rüegg
Das Satellitenbild vom 14.3.2011 zeigt Schäden, die am Fukushima-Dai Ichi-Kraftwerk entstanden sind. Das Bild wurde drei Minuten nach einer Explosion im Kraftwerk aufgenommen. (Bild: DigitalGlobe-Image / Flickr.com)
Das Satellitenbild vom 14.3.2011 zeigt Schäden, die am Fukushima-Dai Ichi-Kraftwerk entstanden sind. Das Bild wurde drei Minuten nach einer Explosion im Kraftwerk aufgenommen. (Bild: DigitalGlobe-Image / Flickr.com) (Grossbild)

Japan hält die Welt in Atem: Alles blickt besorgt nach Fukushima, dem Standort mehrerer Atommeiler. «Dieses Ereignis ist apokalyptisch. Die Kombination von Erdbeben, Riesenwelle sowie dem Ausfall der Stromversorgung und der kompletten Infrastruktur ist mehr als schlimm», sagt Wolfgang Kröger, ETH-Professor vom Institut für Energiesysteme.

Mittlerweile droht die Situation komplett aus dem Ruder zu laufen. Am Dienstag ist Radioaktivität in die Atmosphäre gelangt, die Menschen im Umkreis von 20 Kilometern sollen evakuiert werden. «Es besteht die Gefahr, dass die Anlage sich selbst überlassen wird», befürchtete Kröger schon gestern. Darauf deute hin, dass die Mannschaft auf dem Werkgelände auf 50 Leute reduziert worden sei. Wer sich in der Nähe der Strahlungsquelle aufhält, begibt sich in akute Lebensgefahr. Kein Mensch würde sich mehr in diese Gefahr begeben wollen. «Das ist ein Kamikaze-Job», sagt der Energieexperte.

Tödliche Strahlendosis

Wenn tatsächlich so viel Radioaktivität in die Umwelt gelangt ist, wie am Dienstag gemeldet wurde – entsprechend bis zu 400 Millisievert pro Stunde -, so wird der Aufenthalt in der Nähe der Reaktoren nach wenigen Stunden lebensgefährlich. Natürlicherweise beträgt die stündliche Strahlendosis rund ein halbes Mikrosievert. Das ist 800'000 Mal weniger als die Arbeiter in Fukushima zu erdulden haben. Ab einer Gesamtstrahlenmenge von etwa fünf Sievert, die punktuell im japanischen Atomkraftwerk nach einem halben Tag erreicht ist, sterben nach 14 Tagen rund die Hälfte der Verstrahlten. Acht bis zehn Sievert sind eine für jeden Menschen tödliche Dosis.

Kröger befürchtet weiter, dass die Konsequenzen des Atomunfalls in Japan ähnlich gravierend oder gar gravierender sein werden als diejenigen in Tschernobyl, obwohl Art und Weise, wie der GAU von Tschernobyl ablief, wie auch die Bauweise des Reaktors komplett verschieden sind. Aber die Gesamtstrahlungsbelastung, die von Fukushima ausgehen kann, könnte höher sein als die in Tschernobyl, abhängig davon wie viele Reaktoren und unter welchen Bedingungen radioaktive Stoffe freigesetzt werden. Zudem liegen die zehn fraglichen Reaktoren von Fukushima viel näher an einer dicht besiedelten Agglomeration - in dem Fall an Tokio, wo rund 25 Millionen Menschen betroffen wären.

Rohstoffarmes Land setzte auf Atomenergie

Ob Japan bei der Energieerzeugung jetzt umdenkt, könne man jetzt noch nicht sagen. «Aber die Japaner werden nach diesem Ereignis kaum einfach zur Tagesordnung übergehen.» Der ETH-Professor kann sich jedoch auch kaum vorstellen, dass Japan den Ausstieg aus der Atomenergie ins Auge fasst. Die Bevölkerung sei zwar skeptisch, habe aber diese Art der Energieproduktion akzeptiert. Das Land besitze kaum Rohstoffe und könne den Strombedarf ohne Atomenergie wohl nur decken, wenn es mehr fossile Brennstoffe einsetzte mit entsprechend steigenden CO2-Emissionen. Solar- oder Windenergie seien für Japan keine vollwertige Alternativen, findet Kröger.

An einen Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur ist derzeit nicht zu denken. Wolfgang Kröger schätzt, dass der Gesamtschaden bei rund 20 bis 30 Prozent des Bruttosozialprodukts liegen könnte. «Das Beben rüttelt auch die Wirtschaft durch», sagt er.

Schwächelndes Japan kalt erwischt

«Die Katastrophe trifft Japan zu einem wirtschaftlich schlechten Zeitpunkt», sagt Christian Busch, Japan-Experte an der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich. Japans exportabhängige Wirtschaft wurde von der weltweiten Rezession der vergangenen Jahre besonders schwer getroffen und hat sich noch immer nicht vollständig erholt. Die Wirtschaft ist im vergangenen Jahr kräftig gewachsen. Die Erholung des privaten Konsums wurde insbesondere mit verschiedenen Konjunkturprogrammen der Regierung unterstützt. Nachdem diese nach und nach beendet wurden, schrumpfte die japanische Wirtschaft im vierten Quartal des letzten Jahres erneut. Zudem verursachten diese Programme hohe Schulden, für deren Zinsen inzwischen ein Grossteil der Steuereinnahmen aufgebraucht werden.

Nach der Katastrophe seien jetzt weitere Aufbauprogramme notwendig, welche den immensen Schuldenstand noch erhöhen würden. Zudem werde die Krise auch zu Steuerausfällen führen. Busch betonte jedoch: «Japan ist kein Griechenland, da es nur eine geringe Aussenverschuldung hat.» Wahrscheinlich sei daher eine schon lang diskutierte Erhöhung der Mehrwertsteuer, um erhöhte Staatseinnahmen zu generieren.

Wirtschaftliche Zentren nicht getroffen

Wirtschaftlich gesehen hätten das Erdbeben und der Tsunami aber einen geringen Einfluss, da die wirtschaftlich wichtigen Zentren nicht direkt betroffen seien. Im Vergleich zum Erdbeben in Kobe 1995 sei der volkswirtschaftliche Schaden nach den bisherigen Informationen eher gering und werde wirtschaftlich gesehen keine bleibenden Effekte haben. «Ich spreche hier aus der volkswirtschaftlichen Perspektive, doch die vielen persönlichen Schicksale darf man darüber nicht vergessen», betont Busch.

Der Wirtschaftsexperte geht davon aus, dass es, wie auch nach dem Erdbeben in Kobe, einen Rückgang bei den Exporten geben wird. Dies vor allem durch den Produktionsstopp, zum Beispiel bei der Autoindustrie. Aber auch von diesen wirtschaftlichen Entwicklungen wird sich die japanische Volkswirtschaft schneller erholen, als es die Bilder in den Medien vermuten lassen. Die Wachstumsraten könnten in der zweiten Jahreshälfte sogar etwas höher ausfallen, wenn die Infrastruktur und die Produktionsstätten wieder aufgebaut werden. Sichere Aussagen lassen sich jedoch erst treffen, wenn genaue Daten aus Japan vorliegen. Sollte sich eine radioaktive Wolke ausbreiten, könnten die Schäden aber viel grösser ausfallen. Das hängt jetzt von der aktuellen Entwicklung ab.

Kette von Unglücksfällen

Laut Dirk Helbing, Professor am Lehrstuhl für Soziologie der ETH Zürich und wissenschaftlicher Leiter der FuturICT-Initiative, sind das grösste Problem bei Naturkatastrophen wie in Japan die so genannten Kausalitätsketten: «Ein Unglück kommt selten allein.» Ein Tsunami als Folge eines Erdbebens sei nur die bekannteste Begleiterscheinung. «Das Problem wird verschärft durch den Zusammenbruch der Kommunikations- und Versorgungswege, der Hilfe für die betroffenen Menschen äusserst schwierig macht.»

Die Katastrophe in Japan mache deutlich, wie wichtig eine effiziente und vor allem schnelle Verteilung der Einsatzkräfte und Ressourcen zur Krisenbekämpfung sei, um eine Ausbreitung der Probleme in verschiedene Bereiche einzudämmen. «Entscheidend dabei ist nicht alleine die Menge von Gütern oder Einsatzkräften, sondern die sorgfältige Verteilung der Ressourcen auf die dringendsten Aufgaben», sagt Dirk Helbing.

Ein grosses Manko des heutigen Krisenmanagements sei die fehlende Übersicht: «Es werden zwar gute Einzelanalysen gemacht, doch diese beschränken sich meist auf ein abgegrenztes Segment: Man untersucht beispielsweise den Finanzsektor, das Erdbeben oder Epidemien separat, doch es handelt sich hier um systemische Krisen. Es braucht also eine sektorenübergreifende Analyse, die die Korrelationen und Risiken im Blick hat.»

Globales Echtzeit-Krisenmanagement geplant

Einen neuen Ansatz für ein erfolgreiches Krisenmanagement bietet laut Dirk Helbing die FuturICT-Initiative. «Wir versuchen, im Rahmen des FuturICT Flagship-Projekts die Voraussetzungen für ein globales Echtzeit-Krisenmanagement zu schaffen.» FuturICT soll über die nächsten zehn Jahre mittels Supercomputern und nie gekannter Rechenpower Datenanalysen und Simulationen ausführen, um globale Zusammenhänge aufzuzeigen. «Wir wollen das Sensornetzwerkkonzept, das es für Tsunamis, Unwetter, Klimaveränderungen und Gesundheitsrisiken gibt, auch auf sozio-ökonomische Risiken ausweiten.»

Beachtenswert in Krisensituationen sei zudem auch die Rolle von modernen Medien wie Facebook und Twitter. Diese Medien böten vielfältige Hilfe. So habe etwa Google eine neue Version des Peoplefinders aufgeschaltet, eine Datenbank, mit deren Hilfe nach vermissten Personen gesucht werden könne. «Dies zeigt, dass man die Power vieler Augen nutzen kann und dass Kooperation in Krisensituationen durch die sozialen Medien wirksam unterstützt werden kann.»

Erdbeben: Spezial-Anlass mit ETH-Experten

Aus Anlass der jüngsten Erdbebenkatastrophen in Neuseeland und Japan findet am kommenden Donnerstag an der ETH Zürich ein öffentlicher Vortrag des Schweizerischen Erdbebendienstes statt. Dessen Leiter, Professor Domenico Giardini, berichtet gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen über den wissenschaftlichen Stand der Erkenntnisse zu den Beben, ihre seismologischen Folgen und was wir daraus für die Schweiz lernen können.

Zeit: Donnerstag, 17. März 2011, 18:15 Uhr (Dauer ca. 1 Stunde)
Ort: ETH Zentrum, NO-Gebäude, Hörsaal C60, Sonneggstrasse 5.

 
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