Veröffentlicht: 30.01.08
Internationale Bahnkonferenz IT08.Rail

In 56,9 Minuten nach Bern

Das europäische Bahnnetz ist heute an vielen Stellen überlastet. Dennoch sollen künftig noch mehr Züge auf den Schienen verkehren. Im Rahmen der Fachtagung IT08.Rail diskutierten letzte Woche an der ETH Zürich über 300 Experten aus aller Welt, wie das konkret gehen soll.

Felix Würsten
Der Bahnhof Bern, ein wichtiger Knoten im Schweizer Eisenbahnnetz. Mit Hilfe von neuen Berechnungsverfahren könnten die bestehenden Gleisanlagen noch besser ausgenutzt werden als bisher.(Bild SBB)
Der Bahnhof Bern, ein wichtiger Knoten im Schweizer Eisenbahnnetz. Mit Hilfe von neuen Berechnungsverfahren könnten die bestehenden Gleisanlagen noch besser ausgenutzt werden als bisher.(Bild SBB) (Grossbild)

Die Bahn, darauf deuten fast alle Prognosen hin, wird in den kommenden Jahren in Europa eine zunehmend wichtigere Rolle als leistungsfähiger Verkehrsträger spielen. Vor allem im Güterverkehr rechnen die Experten mit einem starken Anstieg des Verkehrsvolumens. Diese Entwicklung bleibt nicht ohne Folgen: Das heutige Bahnnetz ist an vielen Stellen bereits stark ausgelastet und die Infrastruktur kann aus finanziellen Gründen nicht beliebig weiter ausgebaut werden. Für die Bahngesellschaften geht es deshalb in den nächsten Jahren darum, die bestehenden Anlagen noch besser als bisher auszunutzen. Dass es durchaus Möglichkeiten gibt, aus der Infrastruktur noch mehr herauszuholen, zeigte sich an der Tagung IT08.Rail, welche letzte Woche an der ETH Zürich stattfand.

Genauigkeit als Schlüssel

«Wenn wir den Bahnverkehr noch weiter verdichten wollen, stellt sich eine zentrale Frage: In welcher zeitlicher Auflösung wird der Betrieb des Systems geplant und betrieben?», erklärt Ulrich Weidmann, Professor für Verkehrssysteme am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT) der ETH Zürich und Organisator der IT08.Rail. Heute stützt man sich bei der Planung und beim Betrieb meist auf eine zeitliche Auflösung von einer Minute. In Fachkreisen diskutiert man jedoch bereits, die Fahrpläne auf Zehntelminuten genau auszulegen – das heisst also, dass die Bewegungen der Züge auf wenige Sekunden genau vorgegeben werden. Man hätte damit einen Faktor 10 an Genauigkeit gewonnen.

Wer in Stosszeiten erlebt, wie in grossen Bahnhöfen Züge abgefertigt werden, kann sich allerdings nur schwer vorstellen, dass die Züge auf sechs Sekunden genau verkehren sollen. Doch darum gehe es in erster Linie gar nicht, korrigiert Weidmann: «Es geht um einen grundsätzlichen Wechsel in der Disposition. Bisher definiert der Fahrplan einen Sollzustand, der eingehalten werden muss. Jede Abweichung gilt es, möglichst schnell auszugleichen. Die neue Philosophie geht nun von einem flexibleren System aus: Der Sollzustand wird laufend neu definiert, je nach dem, wie sich der Bahnverkehr bisher entwickelt hat.»

Laufende Berechnung ist machbar

Das heisst natürlich nicht, dass die Züge künftig völlig losgelöst vom gedruckten Fahrplan verkehren werden. Aber es würde zum Beispiel bedeuten, dass die Reihenfolge der Zugsabfahrten und die Gleisbelegung in den Bahnhöfen noch flexibler gehandhabt würden als bisher. «Ein wichtiger Punkt ist, dass man mit einem solchen System viel besser verhindern könnte, dass Züge unplanmässig auf offener Strecke anhalten müssen. Gerade solche Zwischenhalte führen in der Praxis zu beträchtlichen Verzögerungen», meint Weidmann. «Zudem könnten die Kunden viel besser als heute über mögliche Verspätungen und Anschlussprobleme informiert werden.»

Damit ein solch dynamisches Betriebsregime funktionieren kann, müssen allerdings gewisse technische Voraussetzungen erfüllt sein. Zum ersten braucht es für die Disposition genügend Rechnerkapazitäten und leistungsfähige Berechnungsverfahren, damit der optimale Soll-Zustand laufend neu berechnet werden kann. Weidmann geht davon aus, dass dies ungefähr alle drei bis vier Minuten erforderlich wäre. «Man kann natürlich nicht alle paar Minuten den Fahrplan für das gesamte Streckennetz neu berechnen. Vielmehr würde man sich auf einzelne, besonders stark belastete Bereiche konzentrieren.» Dass solche Berechnungen grundsätzlich möglich sind, konnte das Institute for Operations Research (IFOR) der ETH Zürich bereits zeigen. Die Mathematiker entwickelten ein Modell, mit dem sämtliche Zugsfahrten im Gebiet des Bahnhofs Bern in rund einer halben Minute kalkuliert werden können.

Wer fährt wo wie schnell?

Ein zweites wichtiges Element ist der Informationsfluss zwischen der Leitstelle und den Zügen. Den Lokomotivführern, so die Idee, werden künftig laufend Informationen übermittelt, wie schnell sie zu fahren haben. Ein erstes solches System werde gegenwärtig von den SBB in Zusammenarbeit mit dem IVT getestet, berichtet Weidmann. «Da es sich – im Gegensatz zum neuen Zugbeeinflussungssystem ETCS – nicht um ein Sicherheitssystem handelt, sondern nur um ein Informationssystem, sind die technischen Anforderungen viel geringer.» Der Informationsfluss sollte aber auch in der anderen Richtung verbessert werden: Die Leitstelle muss laufend erfahren, wo sich die Züge gerade befinden und wie schnell sie sich bewegen. Diese Informationen stehen jedoch bisher nicht mit genügend hoher Präzision zur Verfügung.

Weidmann ist überzeugt, dass man mit einem solchen verbesserten Leitsystem die Kapazität des Bahnnetzes wesentlich erhöhen könnte. «Primäres Ziel ist es, die Zeitreserven zu verringern, die man bei der Erstellung des Fahrplans jedem einzelnen Zug zur Verfügung stellen muss. Damit entstehen neue Zeitfenster für zusätzliche Züge.»

Den Menschen nicht vergessen

So vielversprechend die technischen Neuerungen auch sind, ein entscheidender Faktor darf dabei nicht übersehen werden: «Auch das künftige Bahnsystem wird von Menschen betrieben», hält Weidmann dezidiert fest. «Die Frage ist, ob sich die Disponenten in den Leitstellen und die Lokomotivführer auf den Zügen in ihrer Arbeit nicht abgewertet fühlen, wenn sie vom Computer quasi ans Gängelband genommen werden.» Die Befürchtung ist nicht von der Hand zu weisen: Ein guter Disponent beispielsweise verfügt über ein enormes Fachwissen und weiss genau, wie er in einer bestimmten Situation das Optimum aus dem System herausholen kann. Und ein erfahrener Lokführer kann auf einer vorgegeben Strecke die zeitlichen Vorgaben erstaunlich präzis einhalten. «Genau wegen solchen Fähigkeiten sind die Mitarbeiter der Bahn auch stolz auf ihre Arbeit», meint Weidmann.

Wie wichtig die Akzeptanz der Mitarbeitenden bei der Einführung eines neuen Systems ist, zeigt das Beispiel Lastwagenverkehr. Auch dort hat man den letzten Jahren neuartige Dispositionssysteme entwickelt; doch bei kaum einer Firma kommen diese richtig zum Tragen, weil die Disponenten sich gegen deren Einführung sträuben. «Die Mitarbeitenden können jedes ausgeklügelte technische System auf ganz subtile Weise leer laufen lassen», ist Weidmann überzeugt. Genau aus diesem Grund untersuchen die SBB zurzeit nicht nur, ob und wie das oben erwähnte neue Informationssystem funktioniert, sondern auch, wie die Lokomotivführer die Vorgaben in der Praxis umsetzen.

 
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