Veröffentlicht: 19.07.13
Science

Eile und Weile auf Nervenbahnen

Forscher des Departements Biosysteme haben mit einer hochauflösenden Methode die Geschwindigkeit der Nervenreizleitung an einzelnen Axonen in Neuronenkulturen vermessen. Wie sehr diese variiert, hätten sie nicht erwartet. Nun suchen die Bioingenieure nach plausiblen Erklärungen.

Peter Rüegg
Axone, die abgehenden schlauchartigen Fortsätze von Nervenzellen, leiten blitzschnell Nervensignale weiter. ETH-Forscher haben die Geschwindigkeit der Reizleitung präzise messen können. (Bild: istockphoto.com)
Axone, die abgehenden schlauchartigen Fortsätze von Nervenzellen, leiten blitzschnell Nervensignale weiter. ETH-Forscher haben die Geschwindigkeit der Reizleitung präzise messen können. (Bild: istockphoto.com) (Grossbild)

Damit die Finger über die Tastatur fliegen, um einen Text einzutippen, braucht es einen Befehl vom Gehirn an die ausführenden Organe. Als «Kabelverbindung» zur Reizleitung dienen Nervenzellen mit ihren schlauchförmigen Fortsätzen, den Axonen. Sie sind dafür verantwortlich, Signale in rasantem Tempo mit bis zu 100 Metern pro Sekunde im Rückenmark zu transportieren. Lange war man überzeugt, dass Axone überwiegend binär funktionieren. Entweder leiten sie ein Signal weiter, also eine «Eins», oder sie befinden sich im Ruhezustand, der einer «Null» entspricht.

Geschwindigkeit variiert stark

Nun zeigt ein Team von Forschern um Douglas Bakkum und Andreas Hierlemann am Departement Biosysteme der ETH Zürich in Basel, dass Axone nicht nur binär funktionieren. Zum ersten Mal konnten die Forscher direkt an verschiedenen Abschnitten von einzelnen Axonen messen, dass ein Nervensignal nicht mit gleichmässiger Geschwindigkeit durch sie rast, sondern unterschiedlich schnell sein kann. Das Geschwindigkeitsmuster eines Axons kann sich überdies von Tag zu Tag verändern, so wie auch dessen Form und Position sich laufend verändern.

Welche Bedeutung diese Geschwindigkeitsvariationen haben, und wie sie zustande kommen, kann Hierlemann jedoch nicht sagen. Dazu seien die Axone noch viel zu wenig erforscht, was auch mit ihrer Grösse zusammenhänge, sagt er. Ein Axon kann zwar bis zu einem Meter lang sein – etwa jene des Rückenmarks – der Durchmesser beträgt aber lediglich zwischen 80 Nanometern und wenigen Mikrometern. Das erschwert es, die feinen Ströme, die ein Axon weiterleitet, zu messen und die molekularen Mechanismen zu ergründen, die für die Geschwindigkeitsvariationen verantwortlich sein könnten.

Unklare Ursache

Bisher gibt es nur Hypothesen zu diesen Mechanismen. Möglicherweise ist die Zeitkomponente bei der Weiterleitung eines Reizes ein Teil der Informationsverarbeitung in Neuronen. Die Mechanismen will die Gruppe in Zusammenarbeit mit Forschenden anderer Fachrichtungen und Institutionen in Zukunft weiter erforschen. Möglich ist dies auch dank eines Ambizione Grants für Bakkum und eines über fünf Jahre angelegten ERC Advanced Grants, den Hierlemann 2010 erhalten hat. Eine rasche Lösung des Rätsels erwarten die Forscher jedoch nicht. Angesichts der Dimensionen eines Axons werde es vermutlich Jahre dauern, bis man die Fragen nachhaltig geklärt habe.

Bis anhin war es den an Nervenreizleitung interessierten Forschenden kaum möglich, die Signale von Gruppen von Neuronen und deren Axone genau zu untersuchen. Die Forschungsgruppe am D-BSSE hat aber in den letzten 10 Jahren viel Zeit darauf verwendet, einen hochauflösenden mikroelektronischen Messchip und die dazugehörigen Methoden zu entwickeln, damit solche Messungen möglich wurden. Mit den nun sehr präzisen Geschwindigkeitsmessungen haben sie die Bestätigung, dass sich der Einsatz gelohnt hat. «Mit unserem Chip hoffen wir nun darauf, wesentliche neue Erkenntnisse gewinnen», betonen sie. Frühere Ansätze konnten weder die hohe zeitlich-räumliche Auflösung erreichen noch waren sie «fein» genug, um der delikaten Struktur von Axonen gerecht zu werden.

Hochauflösender Chip entwickelt

Der Messchip der Basler Forscher besitzt auf kleinster Fläche über 11‘000 Mikroelektroden (3150 Elektroden pro Quadratmillimeter), mit denen Nervensignale gemessen werden und mit denen die Zellen auch stimuliert werden können. Die Daten von 126 frei wählbar ausgewählten Elektroden können gleichzeitig mittels speziell entwickelter und auf dem Chip integrierter Elektronik ausgelesen werden. Die Nervenzellen, deren Axone vermessen werden sollen, wachsen einzeln oder als neuronales Netzwerk direkt auf dem Chip. Dadurch, dass die Elektroden so klein sind, lassen sich die Signale, die durch ein Axon übertragen werden, mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung präzise charakterisieren. Auch lassen sich die Axone über die Elektroden, die einzeln ansteuerbar sind, stimulieren, und leiten dann Signale auch rückwärts an den Zellkörper weiter.

Lange habe die Neurowissenschaftlergemeinde das Potenzial von Mikroelektrodenarrays unterschätzt, sagt Hierlemann. Mit der nun in «Nature Communications» veröffentlichten Arbeit hoffe er, die Methode weiter zu etablieren. «Diese Arbeit zeigt, dass unsere Technologie etwas zugänglich macht, was andere Methoden derzeit nicht erreichen», so der Bioingenieur.

Neuron, Axon und die Reizleitung

Nervenzellen, auch Neuronen genannt, kommunizieren mit anderen Nervenzellen über elektrische und chemische Signale. Ist ein Ausgangssignal am Soma, dem Zellkörper einer Nervenzelle, hoch genug, so pflanzt sich dieses entlang der Membran des Axons in rasender Geschwindigkeit fort. Dabei ändert sich das sogenannte Ruhepotenzial der Axonmembran, das einen negativen Wert hat: Natrium-Ionenkanäle öffnen sich, und positiv geladene Natrium Ionen strömen von ausserhalb in den Axonkörper. Als Folge davon kehrt sich das Potential kurzzeitig um, ehe sich Kalium-Kanäle öffnen und positive Kalium-Ionen nach aussen befördern. Diese kurzfristige Änderung des Membranpotentials, ein sogenanntes Aktionspotenzial, pflanzt sich bis zu den Synapsen fort, den Kontaktstellen zu weiteren Nervenzellen. Dort «wandelt» sich das elektrische Signal in ein chemisches: Botenstoffe werden ausgeschüttet, die den schmalen synaptischen Spalt durchqueren und dann den Reiz auf die benachbarte Nervenzelle übertragen. Nach einem solchen Aktionspotential werden die ursprünglichen Natrium- und Kaliumionenkonzentrationen und somit das Ruhepotential mit Hilfe von Membranpumpen wieder eingestellt. Ein Aktionspotential dauert ungefähr zwei Millisekunden.

Literaturhinweis

Bakkum DJ, Frey U, Radivojevic M, Russell TL, Müller J, Fiscella M, Takahashi H & Hierlemann A. Tracking axonal action potential propagation on a high-density microelectrode array across hundreds of sites. Nature Communications, first published online 19th July 2013. DOI: 10.1038/ncomms3181