Veröffentlicht: 22.05.13
Science

Maya-Medizin trifft Onkologie

Unterschiedlicher könnten die Welten kaum sein, die hier aufeinandertreffen: Acht Maya-Medizinerinnen und -Mediziner aus Guatemala besuchen als Gäste der ETH Zürich die Schweiz, um sich mit Ärzten und Naturwissenschaftlern über das Thema Krebs auszutauschen. ETH Life hat sie dabei begleitet.

Angelika Jacobs
Maya-Medizinerinnen und -Mediziner lauschen dem Radioonkologen der Hirslanden-Klinik im Bestrahlungsraum. (Bild: Pius Krütli / ETH Zürich)
Maya-Medizinerinnen und -Mediziner lauschen dem Radioonkologen der Hirslanden-Klinik im Bestrahlungsraum. (Bild: Pius Krütli / ETH Zürich) (Grossbild)

Die Maya-Heiler beobachten den Roboterarm des Bestrahlungsgeräts, der von Position zu Position fährt, während sie dem Radioonkologen des Spitals Hirslanden lauschen. Der Arzt erklärt ihnen die Kameras, Mikrophone und Lautsprecher im Raum: Während einer Bestrahlung muss das gesamte Personal den Raum verlassen. Es kommuniziert mit dem Patienten vom Nebenzimmer aus übers Telefon. Nana Francisca Salazar, eine der Maya-Heilerinnen, staunt, als ihr der westliche Kollege die Kosten für das Strahlentherapie-Gerät nennt.

Statt mit High-Tech-Geräten arbeiten die Maya mit Feuerritualen, traditionellen Zeremonien und Pflanzen. Was aus wissenschaftlicher Sicht mit Skepsis betrachtet wird, scheint dennoch zu einem gewissen Grad zu wirken: Die von den Maya-Medizinern behandelten Patienten berichten meist von einer Besserung ihres Zustands. Ob dieser Effekt vom festen Glauben herrührt, dass die Heiler ihnen helfen, vom Einsatz bestimmter Pflanzen oder von der Kombination aus beidem, ist noch unklar. Erstmals untersucht nun ein Projekt nach westlichen Forschungsstandards, wie die Maya Krebserkrankungen diagnostizieren und behandeln. Das MACOCC-Projekt (Maya and contemporary scientific conceptions of cancer) ist eine internationale Zusammenarbeit und steht unter der Schirmherrschaft der ETH Zürich.

Dass die beiden so unterschiedlichen Kulturen im Zuge dieses Projektes zusammenarbeiten, ist aussergewöhnlich. Die Maya haben nach Jahrhunderten der Verfolgung und Diskriminierung grosses Misstrauen gegenüber Aussenstehenden entwickelt und ihr Wissen lange geheim gehalten. Einzelne Facetten dieser uralten Kultur dringen von Zeit zu Zeit ins öffentliche Bewusstsein, beispielsweise im Dezember letzten Jahres, als das Ende eines Zeitalters («long counts») im Maya-Kalender als Prophezeiung des Weltuntergangs missinterpretiert wurde. Die von den Maya entwickelten Prinzipien, Zeitabstände zu berechnen, flösst den Menschen hierzulande heute noch Respekt vor dieser uralten Kultur ein. Dennoch findet das überlieferte Wissen der heute lebenden Maya kaum Anerkennung, vor allem nicht in ihrem Heimatland Guatemala. «Unsere Überlieferungen werden von den Menschen in den Städten als Brauchtum abgetan», erklärt Mario Lopez Ixcoy, einer der Maya-Mediziner. «Für uns ist es etwas Besonderes zu sehen, dass ein Land wie die Schweiz, repräsentiert durch Forschende der ETH Zürich, uns auf Augenhöhe begegnet und unser Wissen als fremdes, aber ernst zu nehmendes Wissenschaftssystem behandelt.»

«Wir dürfen einander nicht länger ignorieren»

Dass beide Seiten bereit sind, einander zuzuhören und ihr Wissen zu teilen, ist zu einem grossen Teil Monica Berger, ETH-Doktorandin an der Professur Umweltnatur- und Umweltsozialwissenschaften (NSSI), zu verdanken. Ihr gelang es, das Vertrauen der Maya zu gewinnen, das Wissen der Heiler in 65 intensiven Interviews zu sammeln und als Grundlage ihrer Forschungsarbeit zu strukturieren. Die Zusammenarbeit mit Schulmedizinern in Guatemala aufzubauen, erwies sich für Berger jedoch als schwierig. Thomas Kolly, zur Zeit des Projektstarts Schweizer Botschafter in Guatemala, trat als Gastredner bei der offiziellen Begrüssung der Delegation auf. Er erinnert sich: «Frau Berger bat mich damals um Unterstützung, da sie an viele Türen vergebens klopfte. Aber als wir den Leuten bewusst machten, dass die ETH eine Institution mit Weltruf ist, gingen einige Türen auf.»

Eine dieser Türen war die von Eduardo Gharzouzi, Onkologe am Guatemala National Cancer Institute (INCAN). Er ist am Projekt beteiligt und begleitet die Heiler bei ihrem Besuch in Zürich. Leider seien Vorurteile gegenüber den Maya in Guatemala sehr verbreitet, und auch er sei mit Skepsis ins MACOCC-Projekt gestartet, gibt er zu. «Anfangs habe ich wie alle meine Kollegen die Maya-Medizin nicht ernst genommen. Inzwischen denke ich, dass wir einander nicht länger ignorieren dürfen. Die Lebensumstände und Psyche eines Patienten miteinzubeziehen und seinen Kampfgeist zu wecken, wie es die Maya-Heiler tun, sollte ebenso zur Therapie gehören wie Medikamente zu verabreichen. In dem Bereich können wir viel von den Maya lernen.»

Sein Schweizer Kollege Christoph Renner, Onkologe an der Hirslanden-Klinik und ebenfalls am Projekt beteiligt, zeigt den Gästen seinen Arbeitsplatz, nachdem er im vergangenen Jahr die Maya-Heiler in Guatemala besucht hat. Er erklärt ihnen, dass hiesige Ärzte die Krankheit und den Patienten separat betrachten. Berger kommentiert, den Maya sei unverständlich, wie die westlichen Mediziner überhaupt jemanden heilen könnten, wenn sie nicht das Ganze – die Erkrankung, die Persönlichkeit des Patienten, seine Lebensumstände und sein Umfeld – betrachteten. Die Maya-Heiler bauen ein enges Verhältnis zu den Erkrankten auf und glauben, dass diese Verbindung den Heilungsprozess massgeblich beeinflusst.

Die Gesamtsituation betrachten

Beim Besuch des Schweizer Spitals fällt auf, dass hierzulande zumindest stellenweise ein Umdenken hin zu einer ganzheitlicheren Medizin schon stattgefunden hat. Die Behandlung von Krebspatienten beinhaltet heute bei Bedarf und auf Wunsch auch psychologische oder religiöse Unterstützung des Patienten und seiner Familie. Dass eine positive Einstellung des Patienten und seines Umfeldes den Heilungsprozess beeinflusst, ist wissenschaftlich unumstritten. Die Forschung findet beispielsweise immer mehr Hinweise darauf, dass körpereigene Botenstoffe zelluläre Prozesse verändern. Ähnliche Ansätze finden sich bei den Maya: Sie meinen, eine Person, die sich stets ärgere und mit den Nachbarn streite, sei anfälliger für Krankheiten.

Die traditionellen Maya-Therapien beruhen jedoch nicht nur auf der spirituellen Begleitung des Patienten. Die Maya-Heiler benutzen eine Vielfalt an Pflanzen, die im Zuge des MACOCC-Projektes von ETH-Doktorand Martin Hitziger katalogisiert und untersucht werden. Eine überraschende Gemeinsamkeit der westlichen und der Maya-Medizin zeigte sich beim Besuch der Maya im Labor für Photodynamische Therapie an der Uni Zürich: Das dort angewendete Prinzip, Tumorzellen mit bestimmten Wirkstoffen empfindlich auf Licht zu machen, sie dann zu beleuchten und zum Absterben zu bringen, kennen auch die Maya. Sie behandeln erkrankte Hautpartien eines Patienten mit einer Heilpflanze und setzen sie anschliessend dem Sonnenlicht aus. Dabei machen sie sich sogar die unterschiedlichen Wellenlängen des Lichts zu verschiedenen Tageszeiten zunutze, beispielsweise das langwellige, rote Sonnenlicht am Morgen oder Abend.

Wissenschaftliches Arbeiten mit Respekt vor der Kultur

Das 2010 begonnene MACOCC-Projekt steht noch am Anfang, verspricht jedoch spannend zu werden: Die Maya-Heiler beginnen nun, ihre Patienten bei Gharzouzi im Guatemala National Cancer Institute mit schulmedizinischer Diagnosetechnik untersuchen zu lassen. Dadurch soll festgestellt werden, ob die Krebsdiagnose der Maya mit der westlichen übereinstimmt und ob ihre Behandlungsmethoden eine Wirkung zeigen. «Das Besondere an diesem Projekt ist, dass die Maya-Kultur bislang nie mit Fokus auf die Medizin untersucht wurde», kommentiert Monica Berger. «Wir folgen wissenschaftlichen Standards und arbeiten mit Onkologen, Psychologen, Epidemiologen, Umwelt- und Sozialwissenschaftlern zusammen, respektieren aber zugleich die Traditionen der Maya.»

Nach dem Besuch im Spital meint Nana Francisca Salazar, die Medizinaltechnologie sei insbesondere in der Schweiz sehr weit entwickelt. Sie glaube, wenn beide Seiten – westliche Ärzte und Mayas – ihre Unterschiede überwänden, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen, könnten sie grosse Fortschritte im Kampf gegen Krebs machen. Auch Monica Berger und der Projektleiter Pius Krütli, Wissenschaftler am Institut für Umweltentscheidungen, sind zufrieden mit dem Verlauf des Besuchs und hoffen, zur Fortsetzung des Projektes weitere Geldgeber gewinnen zu können. Die Finanzierung des Projekts ist dank der ETH Zürich und der Stiftung Cogito bis 2015 gesichert.