Veröffentlicht: 11.04.13
Science

Modellstadt feiert Richtfest

In der Hoffnung auf ein besseres Leben strömen in Äthiopien täglich über 1000 Menschen aus dem Umland nach Addis Abeba. Um die Landflucht einzudämmen, entwickeln ETH-Architekten neue Städte für Landbewohner. In der ersten «NESTown» war kürzlich Richtfest.

Christine Heidemann
Die neue NESTown wird von einer Wohn- und Produktionsgenossenschaft organisiert. Deren Präsident übernahm beim Richtfest feierlich das Modell für das Haus der Genossenschaft, gestiftet von ABZ (Allgemeine Baugenossenschaft Zürich).  (Bild: Monika Oswald)
Die neue NESTown wird von einer Wohn- und Produktionsgenossenschaft organisiert. Deren Präsident übernahm beim Richtfest feierlich das Modell für das Haus der Genossenschaft, gestiftet von ABZ (Allgemeine Baugenossenschaft Zürich). (Bild: Monika Oswald) (Grossbild)

Äthiopien steht unter Druck. In weniger als dreissig Jahren hat sich die Bevölkerung des ostafrikanischen Landes auf 91 Millionen Menschen verdoppelt. Vor allem die Situation in den Städten hat eine kritische Grenze erreicht. Täglich verlassen Hunderte von Bauern ihr Domizil auf dem Land und hoffen auf ein besseres Dasein in den Zentren. Die meisten zieht es in die Hauptstadt Addis Abeba. Dort enden sie meist in selbst gebauten Hütten aus Plastikfolien, Holzbrettern und Wellblech, ohne sanitäre Versorgung und Elektrizität, und ohne Arbeitsplatz und Einkommen.

Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern und den Lebensstandard der Bevölkerung auf dem Land zu verbessern, hat der emeritierte ETH-Architekturprofessor Franz Oswald mit NESTown Group das Stadtentwicklungsprojekt «NEST» (New Energy Self-Sufficient Town) ins Leben gerufen. Es soll beispielhaft zeigen, wie umwelt- und sozialverträgliche Siedlungen mit hohem Selbstversorgungsgrad ausserhalb von Addis Abeba aussehen könnten. Das Konzept der «NESTowns» ist eine Alternative zur gewohnten Form der Urbanisierung. Durch die Verdichtung von Wissen und Infrastruktur in semi-urbanen Zentren sollen der Landbevölkerung neue Perspektiven eröffnet werden. Kürzlich feierte die erste NESTown ihr Richtfest.

Die Idee der «Landstadt» ist, dass sie von den Bewohnern selbst erbaut wird und auf einer vielfältigen und effizient organisierten Landwirtschaft basiert, inklusive der dazugehörigen Infrastruktur für Wasserhaushalt und Hygiene. «Ökologie, Energie, Austausch und Bildung gelten als Antriebskräfte der Stadt», sagt Franz Oswald, der sich seit vielen Jahren für die Zusammenarbeit zwischen Äthiopien und der Schweiz engagiert. Zudem, so Oswald, werde eine NESTown genossenschaftlich organisiert.

Feldforschung am Blauen Nil

Die erste, jetzt im Rohbau existierende Stadt heisst BuraNEST und liegt am Tanasee, dem Quellgebiet des Blauen Nil, etwa 350 Kilometer Luftlinie von Addis Abeba entfernt. Sie dient als Modell für hunderte weiterer von der äthiopischen Regierung in den kommenden Jahren geplanten Zentren. Zugleich ist sie ein Forschungsobjekt und wird als solches vom Departement Architektur der ETH mitfinanziert. So fand ein Jahr nach der Grundsteinlegung im Jahre 2010 unter anderem ein Workshop am Singapore-ETH Centre for Global Environmental Sustainability statt.

Im Frühjahr 2012 startete dann der Bau der Stadtanlage von BuraNest – mit Strassen, einer Brücke, einer Baumschule, einem Stadtplatz für gemeinschaftliche Anlässe und der sogenannten Stadtbauhütte oder «Town Factory». Sie dient als Musterbau für eine so genannte «Rain Water Unit»; das ist eine Hauszeile für acht bis 16 Wohneinheiten, auf deren Dachfläche das Regenwasser gesammelt und danach in Zisternen gespeichert wird.

Bevölkerung bestimmt von Anfang an mit

Wichtig, so Oswald, sei, dass bei dem Projekt nicht mehr allein die Behörden den Weg vorgeben, sondern die Stadtentwicklung von der Bevölkerung mitgetragen und gleichberechtigt mitgesteuert werde. Dabei würden traditionelle Werte ebenso berücksichtigt wie neue, aktuelle Ansichten und Gewohnheiten.

«Die grösste Herausforderung war, das Vertrauen der lokalen Bevölkerung zu gewinnen, zu erhalten und schliesslich das neu gewonnene Selbstvertrauen zu stützen und nachhaltig weiter zu entwickeln», erklärt der emeritierte Professor. Dabei sieht er sich und seine Kollegen in der Rolle des Katalysators und Moderators. Der Erfolg gibt ihm recht: 90 der insgesamt 200 Haushalte von Close One, das erste Stadtquartier, sind bereits der Genossenschaft beigetreten, die anlässlich des Richtfestes gegründet wurde. «Das werten wir als überraschenden, freudigen Erfolg».

Von Seiten der ETH entscheidend zum Gelingen des Projekts beigetragen hätten auch die Mitarbeiter von ETH Sustainability, betont Franz Oswald. Die Koordinationsstelle für die Nachhaltigkeitsaktivitäten der Hochschule habe den Austausch zwischen äthiopischen und schweizerischen Studierenden sowie Fakultätsmitgliedern der ETH und der Addis Ababa University erst ermöglicht und damit den nachhaltigen Wissenstransfer zwischen beiden Ländern gefördert. Auf diese Weise leiste die ETH Zürich in Äthiopien einen wesentlichen Beitrag zur Lösung drängender globaler Probleme.