Veröffentlicht: 05.12.12
Science

Wieviel EU-Recht steckt in Schweizer Gesetzen?

Heute vor 20 Jahren sagte das Schweizer Stimmvolk nein zu einem EWR-Beitritt. ETH-Doktorandin Sabine Jenni untersuchte 780 Gesetzesrevisionen, die in den letzten zwei Jahrzehnten in Kraft traten und kam zum Schluss: Rund 40 Prozent dieser Schweizer Gesetze entsprechen heute EU-Recht.

Samuel Schlaefli
Sabine Jenni, Forschungsassistentin an der Professur für Europäische Politik, analysierte für ihre Dissertation mehr als 500 Bundesgesetze zwischen 1990 und 2010. (Bild: Dasha Zorkina)
Sabine Jenni, Forschungsassistentin an der Professur für Europäische Politik, analysierte für ihre Dissertation mehr als 500 Bundesgesetze zwischen 1990 und 2010. (Bild: Dasha Zorkina) (Grossbild)

Seit dem EWR-Nein vor 20 Jahren regelt die Schweiz ihre Beziehungen zur Europäischen Union über bilaterale Verträge und den «autonomen Nachvollzug» von EU-Recht. Dieser bilaterale Weg sollte der Garant dafür sein, dass die Schweiz den Anschluss an den Europäischen Wirtschaftsraum nicht verpasst. Seither wird die stetige Übernahme von EU-Recht sowohl von EU-Befürwortern als auch von EU-Gegnern für ihre Sache ins Feld geführt. Für Erstere zeigt sie, dass langfristig kein Weg an einem Beitritt zum EWR und zur EU vorbeiführt. Für Letztere hingegen ist sie der Beweis für eine schleichende Entmachtung der Schweiz durch die EU und deshalb ein Grund, sich stärker von dieser zu emanzipieren. Wie weit diese beidseitig instrumentalisierte «Europäisierung» des Schweizer Rechts tatsächlich fortgeschritten ist, wusste bislang niemand genau. Die Spuren in den Schweizer Gesetzbüchern, die auf eine Anlehnung an EU-Recht hindeuten könnten, sind oft verwischt. Und ein Nationalrats-Vorstoss von 2006 mit der Forderung, Gesetze, die sich an EU-Vorlagen orientieren, speziell zu kennzeichnen, wurde vom Bundesrat abgelehnt.

Fast Hälfte der Revisionen nach EU-Recht

«Es hiess immer, dass eine solche Kennzeichnung zu kompliziert und in der Praxis nicht umsetzbar sei», sagt Sabine Jenni, Doktorandin an der Professur für Europäische Politik der ETH Zürich. «Das war für mich ein zusätzlicher Ansporn, die Gesetze mit EU-Bezug systematisch aufzuspüren.» Im ersten Teil ihrer Doktorarbeit hat sie zusammen mit zwei studentischen Mitarbeitern 780 Revisionen von 535 Bundesgesetzen zwischen 1990 und 2010, die mindestens ein Jahr in Kraft waren, genauer angeschaut. Dies, indem sie die Botschaften analysierte, die der Bundesrat zu jeder Gesetzesänderung verfasst, und in denen sich Hinweise auf bestehendes EU-Recht finden lassen. Das Ergebnis: Mehr als 40 Prozent der Revisionen entsprachen mehr oder weniger den Gesetzen der EU. Für die eine Hälfte galt dies bereits vor der Revision. Die andere Hälfte wurde an EU-Recht angepasst, wobei die Hälfte davon ohne jegliche Abweichungen übernommen wurde.

Jenni untersuchte weiter, inwiefern die Gesetzesänderungen mit dem Inkrafttreten und den Revisionen von bilateralen Verträgen zusammenhängen. 2010 regelten 149 mehr oder weniger umfangreiche Verträge die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU, die den Bund teilweise zu Gesetzesänderungen verpflichteten. Die Anzahl Anpassungen an EU-Recht nahm mit den bilateralen Verträgen zwar zu, diese waren aber bei weitem nicht der einzige Auslöser dafür. Der Bund übernahm also teils auch dann EU-Recht, wenn dies von Brüssel nicht explizit gefordert wurde. Das erklärt Jenni wie folgt: «Die EU ist für die Schweiz heute der wichtigste Referenzpunkt, wenn es um die Ausgestaltung von neuen Gesetzen geht.»

Jennis Ergebnisse sind vor allem im Hinblick auf die aktuellen Forderungen der EU nach einer «dynamischen Rechtsübernahme» durch die Schweiz relevant. Demnach sollen EU-Gesetze zügig und detailgetreu übernommen werden. Die Analyse von Jenni zeigt, dass EU-Recht schon heute die Schweizer Gesetzgebung prägt, und manche Gesetze regelmässig an die EU angepasst werden. Dass dies jedoch bei der Mehrzahl der Gesetze in 20 Jahren nur einmal geschah, könnte laut Jenni ein Hinweis auf mangelnde Dynamik bei der aktuellen Nachvollzugs-Praxis sein. Zudem wird seit 2007 mehr EU-Recht vollumfänglich übernommen, denn die jüngsten bilateralen Verträge lassen der Schweiz weniger Spielraum in der Rechtsanpassung. Damit hat der «autonome Nachvollzug», wie er nach der Abstimmung von 1992 als goldener Weg gehandelt wurde, an Bedeutung verloren. Vergleiche mit Studien zu Lichtenstein und Norwegen deuten zudem darauf hin, dass die Rechtsübernahme-Praxis in der Schweiz schon heute mit derjenigen von EWR-Staaten, die nicht der EU angehören, vergleichbar ist.

Mehr Transparenz und bessere Vereinbarkeit

Was würde also die von der EU geforderte «dynamische Rechtsübernahme» für die Schweiz konkret bedeuten? Jenni sieht vor allem Chancen, die sie mit folgendem Vergleich auf den Punkt bringt: «Es ist einfacher, die Mode eines Nachbarn zu imitieren, wenn man genau weiss, was dieser aktuell trägt.» Sie ist überzeugt: Die «dynamische Rechtsübernahme» könnte dazu beitragen, dass Anpassungen an die EU von dieser auch als solche akzeptiert werden. Damit würde die Rechtssicherheit für alle Betroffenen gestärkt. Da sich die Schweiz schon heute an der EU orientiert, käme es nicht gezwungenermassen zu mehr Anpassungen. Gleichzeitig würde das Rechtsübernahme-Verfahren transparenter, was auch eine wichtige Voraussetzung für die demokratische Kontrolle der Gesetzgebung ist.

Ob ein Beitritt zum EWR oder gar zur EU für die Schweiz im Hinblick auf die Rechtsübernahme langfristig unausweichlich wird, will Jenni nicht prognostizieren. Sie gibt jedoch zu bedenken, dass sich die EU seit dem EWR-Nein stark verändert hat. Mit der Nord- und Osterweiterung ist sie auf 27 Staaten angewachsen, von welchen viele der Schweiz weit weniger verbunden sind, als 1992 ihre direkten Nachbarn.

20 Jahre EWR-Nein

Nach einem hitzigen Wahlkampf stand am Abend des 6. Dezember 1992 fest: Die Schweiz wird nicht Teil des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR). Mit 50,3 Prozent Nein-Stimmen fiel der Entscheid des Souveräns knapp aus; umso klarer war die Sache bei den Kantonen, wo 16 von 23 Ständen den EWR ablehnten. Mit einem autonomen Rechtsnachvollzug und den Bilateralen Verträgen wollte der Bund nach dem EWR-Nein eine Isolierung in Europa verhindern. Die EU ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz. Rund 60 Prozent aller Schweizer Exporte gehen in die EU und 80 Prozent der Importe kommen aus demselben Raum. Seither wurden zwischen der Schweiz und der EU 20 zentrale bilaterale Abkommen und  über 100 weitere Abkommen geschlossen, die unter anderem den Zugang von Schweizer Firmen zum EU-Binnenmarkt sichern. EU-Vertreter kamen jedoch jüngst zum Schluss, dass das bisherige System der bilateralen Abkommen mit der Schweiz an seine Grenzen stösst. Sie fordern deshalb neue Lösungen für institutionelle Aspekte der Zusammenarbeit, darunter die dynamische Rechtsübernahme von EU-Recht und eine Überwachungsbehörde, die sichern soll, dass die bilateralen Abkommen umgesetzt werden.

 
Leserkommentare: