Veröffentlicht: 15.08.12
Kolumne

Wissenschaftler sind keine Esoteriker

Martin Sack
Martin Sack, Doktorand am Departement Mathematik (Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich)
Martin Sack, Doktorand am Departement Mathematik (Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich) (Grossbild)

Liebe Studierende,

Am Samstag hatte ich Prüfungsaufsicht. Dort hat mich einer von euch gefragt, wie detailliert er seine Antworten aufschreiben muss. Ich habe nur wiederholt, was auf unseren Deckblättern steht: «Notieren Sie alle Zwischenresultate und Lösungswege!» Dahinter verbirgt sich für mich ein wissenschaftlicher Grundsatz.

Im ersten Semester an der ETH mussten wir unsere erste Übung überhaupt in Geometrie abgeben. Mein Blatt kam mit vielen Kommentaren und Korrekturen versehen zurück. Aus ihnen stach ein Satz heraus: «Das ist kein Beweis.» Der Assistent führte dann in der Übungsstunde aus, was er unter einem Beweis versteht. Ein Beweis müsse einen anderen überzeugen, dass die Schlussfolgerungen, die man gezogen hat, richtig sind. Das klingt zunächst seltsam. Mathematik beruht schliesslich auf Logik. Wenn etwas richtig ist, gibt es nichts zu deuten. Es bleibt richtig, auch wenn ein anderer zweifelt. Darin liegt aber die Krux: Wir betreiben Wissenschaft nicht, um sie unseren Zimmerpflanzen mitzuteilen. Wissenschaft besteht aus Forschung und Lehre. Und Lehre ist hier das Vermitteln von Erkenntnissen. Lehre findet nicht nur in der Vorlesung statt. Wir lehren auch, wenn wir eine Aufgabe lösen. Selbst wenn wir diese «Erkenntnisse» nur für uns selbst benötigen, wie zum Beispiel kleine Zwischenschritte, Hilfsrechnungen. Was immer wir niederschreiben, es muss möglich sein, unsere Notizen in die Hand zu nehmen und nachzuvollziehen, warum unsere Gedankenkette schlüssig ist.

Die experimentellen Wissenschaften bestehen darauf, dass Resultate wiederholbar sind. Wenn jemand seine Messergebnisse in einer Zeitschrift wie "Nature" publiziert, muss ich - theoretisch - in der Lage sein, wenn ich seine Apparaturen nachbaue und die gleichen Bedingungen schaffe, seine Ergebnisse zu reproduzieren. Sonst betreibt er Esoterik. In der Mathematik haben wir keine physischen Experimente. Wir beginnen mit einem Satz von Annahmen und hangeln uns durch Implikationen, bis wir bei einer Aussage angelangt sind, sei es ein Theorem oder die Lösung einer Aufgabe. Gebe ich die Notizen meines Experimentes, meine Rechnungen, einem anderen in die Hand, muss er in der Lage sein, in seinem Kopf meine Schlüsse zu reproduzieren. Ich traue keinem, der schreibt, er habe gestern einmal, aber auch nur einmal kurz Überlichtgeschwindigkeit gemessen, danach nicht mehr. Und ich hoffe, mich nimmt keiner ernst, wenn ich schreibe, dass ich gestern Abend noch fest davon überzeugt war, durch Null teilen zu können.

Zugegeben, ein schlecht geschriebenes Paper kann ein gutes Resultat enthalten. Es ärgert viele, aber man wird es dennoch lesen. Unter einer Prüfung hingegen steht eine Note. In ihr spiegelt sich wider, ob ihr verstanden habt, worum es in der Vorlesung ging und ob ihr euer Wissen anwenden könnt.

Aber das ist der Punkt: Wir bilden keine Rechenkünstler aus. In den meisten Aufgaben werden Begriffe und Sätze implizit abgefragt. Die Kommentare über den Gleichheitszeichen und Folgepfeilen sind mindestens so wichtig wie die Aussagen links und rechts davon. Deswegen schreibt, was ihr verwendet! Seid im Zweifel lieber zu ausführlich! Wenn ihr begründet und kommentiert, verschwendet ihr keine Zeit. Gerade dann bearbeitet ihr die Prüfung.

Nebenbei sichert ihr euch ab. Ein Rechenfehler zerstört nicht die ganze Aufgabe, wenn die Begründungen korrekt sind. Schief gehen kann noch viel in der Hektik einer Prüfung. Ich habe einmal aus zwei mal zwei sechs gemacht. Warum, kann ich selbst nicht mehr nachvollziehen.

Viel Erfolg,

Martin

Zum Autor

Martin Sack ist Doktorand am Departement Mathematik. Aufgewachsen ist der heute 26-Jährige in Mainz, wo er 2004 sein Abitur ablegte. Für sein Physik-Studium kam er an die ETH Zürich. Hier erlangte er seinen Master 2008. Schliesslich realisierte er, dass Physik auch in der realen Welt eingesetzt werden könnte und begann, ebenfalls an der ETH, ein Doktorat in Mathematik. Er arbeitet derzeit an nichtlinearen dispersiven Gleichungen. Ist Martin Sack nicht gerade für seine Dissertation am Zahlenbeigen, ist er der Schatzmeister der Akademischen Vereinigung des Mittelbaus der ETH Zürich AVETH. In seiner Freizeit lässt er gerne Rundes kreisen: die Räder seines Bikes am Tage und nach Sonnenuntergang die Plattenteller als DJ. Am meisten fasziniert ihn, was mit elektronischer Musik möglich geworden ist.