Veröffentlicht: 03.07.12
Science

Forschung im urbanen Grosslabor

Die Favelas als Forschungsobjekte: Stadtplaner und Architekten der ETH Zürich entwickeln für brasilianische Slums Gebäudetypen und Technologien, die eine nachhaltige Siedlungsentwicklung ermöglichen. Sie tun dies zusammen mit der Bevölkerung und den lokalen Behörden.

Beat Gerber
Inspiration für Stadtplaner und Architekten der ETH Zürich: Favelas wie der Complexo do Alemão in Rio de Janeiro, wo 100‘000 Menschen leben. (Bild: Beat Gerber)
Inspiration für Stadtplaner und Architekten der ETH Zürich: Favelas wie der Complexo do Alemão in Rio de Janeiro, wo 100‘000 Menschen leben. (Bild: Beat Gerber) (Grossbild)

Aus der Luft betrachtet bildet Complexo do Alemão ein grenzenloses Häusermeer mit Tausenden von ineinander verschachtelten Gebäuden, winzigen Wassertanks auf den Dächern und viel bunter Wäsche auf den Terrassen. Die engen Strassen erscheinen unter der gleissenden Sonne wie silbrige Bänder. Hier in dieser Mega-Favela mit 25 Quartieren auf mehreren Hügeln am Nordrand von Rio de Janeiro leben 100‘000 Menschen.

Wir schweben in der vor zwei Jahren eingeweihten Gondelbahn hoch und blicken etwas verlegen auf den immensen Slum in der Tiefe. Die Anlage mit 67 Kabinen und sechs Stationen dient der Bevölkerung der weiträumigen und schwer zugänglichen Siedlung als Transportmittel. Sie ist ein symbolisches Projekt und soll die erfolgreiche Befriedung der Favela manifestieren. Brasilien und vor allem Rio de Janeiro müssen nämlich in den nächsten Jahren mehrere Grossanlässe meistern und wollen sich keine Blössen mit Drogenkriegen und Gewalt in den Armenvierteln geben. Die Welt soll die Fussball-WM 2014 und die Sommer-Olympiade 2016 als friedliche Veranstaltungen in Erinnerung behalten.

ETH-Erfahrung in Südamerika, Asien und Afrika

Vor diesem Hintergrund sind denn auch die grossen Investitionen des brasilianischen Staats zu sehen, eine menschenwürdige und nachhaltige Entwicklung der Favelas einzuleiten. Auch die ETH Zürich engagiert sich dabei mit entsprechenden Projekten, haben doch die Lehrstühle für Urban Design der Professoren Marc Angélil, Alfredo Brillembourg, Hubert Klumpner, Christian Kerez und Annette Spiro bereits ähnliche Erfahrungen in den Slums von Venezuela, Indien und Addis Abeba sammeln können.

Die Aufwertung der Favelas ist ein vielschichtiger Prozess, der viel Gespür für Rückmeldungen seitens der betroffenen Einwohner verlangt. Die Forschenden werden bei diesen Experimenten somit auch zu Lernenden. «Wir sind keine Experten, die ihre externe Sichtweise diesem besonderen Raum aufzupfropfen versuchen, sagt Rainer Hehl, Studienleiter am Master of Advanced Studies (MAS) Urban Design. Neben dem Wohnen spielt auch die Mobilität eine wichtige Rolle, um die wirtschaftliche Entwicklung der Favelas zu fördern. So schlägt die ETH Zürich in Rio vor, nicht nur das geplante Olympiastadium für 80‘000 Zuschauer ans öffentliche S-Bahnnetz anzuschliessen, sondern gleichzeitig auch die nur wenige hundert Meter entfernte Favela Manguiera. Die Behörden haben die neue S-Bahnstation nämlich ausschliesslich für die Olympiade-Besucher vorgesehen.

Auch soziale Entwicklung fördern

Die Favela-Projekte des ETH-Departements für Architektur sind zurzeit in Rio und São Paulo in Ausstellungen zu sehen und stossen auf grosses Interesse, auch bei den Medien. Dabei sollen nicht nur Architektur und Technik die Lebensqualität in solchen informellen Siedlungen erhöhen. Die Behörden wollen zusätzlich das Wohneigentum sowie den Kleinhandel unterstützen und damit der Bevölkerung auch soziale Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Ein Beispiel dafür ist die Sanierung von Cabuçu de Baixo, einer Favela in São Paulo. Hier sind vier MAS-Absolventen direkt in die Planungen vor Ort involviert und lassen ihr an der ETH Zürich erlerntes Wissen einfliessen. Vom Feedback der lokalen Architekten und Behörden, die mit der ETH zusammenarbeiten, können wiederum auch die Studierenden im aktuellen MAS-Kurs profitieren. «Die grösste Herausforderung bei solchen Projekten liegt neben den administrativen Hürden vor allem in der Koordination der fachübergreifenden Teams», sagt ETH-Studienleiter Rainer Hehl.

Nord und Süd miteinander verknüpft

In Cabuçu de Baixo leben 30‘000 Menschen, viele davon in Risikogebieten. An steilen Hanglagen gefährden Erdrutsche die Sicherheit der Häuser, im Bereich des verdreckten Flusses drohen heftige Überschwemmungen. Zur Umsiedlung der betroffenen Bewohner sind Wohntürme aus Leichtbeton vorgesehen, die dank Recycling-Zusätzen eine bessere Energiebilanz vorweisen. Gezielt angebrachte Stützmauern sollen das Terrain stabilisieren und ein unterirdisches Kanalsystem die Abwässer einer Kläranlage zuführen. Das Projekt ist Teil des Programms des Sekretariats für Wohnungswesen (SEHAB) in São Paulo, das in den Favelas der brasilianischen Metropole das Wohnumfeld verbessern will.

Letztlich sei auch der Norden davon betroffen, was hier im Süden städtebaulich passiere, sagt Hubert Klumpner, ETH-Professor für Urban Design. Eine menschenwürdige und wirtschaftlich positive Entwicklung in den bevölkerungsreichen Slums der Megastädte stärke eine friedfertige Welt. Daher sei das internationale Engagement der ETH Zürich für eine nachhaltige Siedlungsplanung eine sehr sinnvolle Investition.

Bündnisse mit Brasilien für Lehre und Forschung

Brasilien ist für die Schweiz eines der Schwerpunktländer für Partnerschaften zwischen Hochschulen und Forschungsinstitutionen. Diese Erklärung hatte 2010 der damalige Bildungsminister und Bundesrat Didier Burkhalter mit einem Arbeitsbesuch in Brasilien bekräftigt. Vergangene Woche hat ETH-Präsident Ralph Eichler nun verschiedene Universitäten und Unternehmen besucht, um die Kontakte zu vertiefen und auch Absichtserklärungen zu unterschreiben. Die ETH-Delegation mit mehreren Professoren absolvierte ein dichtes Programm und konnte etliche Erfolge verbuchen. Im Zentrum stand die Unterzeichnung von Abkommen für die Zusammenarbeit in Lehre und Forschung mit dem brasilianischen Nationalfonds CNPq sowie mit der Förderstiftung FAPESP des Bundesstaats São Paulo.
Seit mehreren Jahren bestreiten die Architekturfakultäten der Universität São Paulo und der ETH Zürich gemeinsame Workshops und Projekte, auch tauschen sie gegenseitig Studierende aus. Anlässlich eines Besuchs wurden weitere Aktivitäten angekündigt, so ein Symposium über Holzbau im Herbst. Grosses Interesse an einer Kooperation mit der ETH Zürich zeigten Unicamp und das Technologische Institut für Luftfahrt, beides renommierte Hochschulen im Umkreis von São Paulo. Die ETH-Delegation war ausserdem zu Gast beim Polytechnikum der Bundesuniversität von Rio de Janeiro, bei der Ingenieurschule COPPE, dem staatlichen Agarforschungsinstitut Embrapa sowie bei den Unternehmen Petrobras (Energie) und Embraer (Flugzeugbau). Nach der offiziellen Kontaktaufnahme gilt es jetzt, gemeinsame Projekte zu definieren und die Zusammenarbeit tatsächlich auch zu beleben.