Veröffentlicht: 19.04.12
Science

Pflanze kompensiert wie der Mensch

ETH-Forscher belegen, dass auch Pflanzen die Dosiskompensation von Geschlechtschromosomen «erfunden» haben. Nachweisen konnten sie dieses Phänomen bei der Weissen Lichtnelke.

Peter Rüegg
Weisse Lichtnelke: In dieser unscheinbaren Pflanze hat sich das bei Säugetieren etablierte System der Dosiskompensation vor 10 Mio. Jahren neu entwickelt. (Bild: flickr.com)
Weisse Lichtnelke: In dieser unscheinbaren Pflanze hat sich das bei Säugetieren etablierte System der Dosiskompensation vor 10 Mio. Jahren neu entwickelt. (Bild: flickr.com) (Grossbild)

Trotz ihrer unterschiedlichen Entwicklungsgeschichte haben die Weisse Lichtnelke (Silene latifolia) und der Mensch etwas gemeinsam: das XX/XY-System ihrer Geschlechtschromosomen. Bei dieser Pflanze sind männliche und weibliche Blüten auf unterschiedlichen Individuen zu finden. Das ist bei höheren Pflanzen ziemlich selten, da die meisten zwittrig sind. Die «Männchen» besitzen wie Männer ein X- und ein Y-Chromosom, die Weibchen haben wie Frauen zwei X-Chromosomen.

Beim Menschen ist dieses System alt. Das Y-Chromosom ist im Lauf der Jahrmillionen stark degeneriert und trägt kaum mehr funktionsfähige Gene. Evolutionsforscher gehen davon aus, dass die sogenannte Dosiskompensation den massiven Verlust von Genen und deren Genprodukten des Y-Chromosoms ausgleicht. Sie ist ein fundamental wichtiger Vorgang, damit es in einem Organismus nicht zu einem Ungleichgewicht kommt.

Beim Menschen wird ein X-Chromosom der Frau stillgelegt, so dass das X-Chromosom des Mannes und das verbleibende X-Chromosom der Frau gleich viele Genprodukte – sprich RNS respektive Proteine – erzeugen. Bei der Taufliege Drosophila ist es hingegen so, dass die Gene auf dem X-Chromosom des Männchens doppelt so oft abgelesen werden, um für das Vorhandensein von zwei X-Chromosomen im Weibchen auszugleichen.

X kompensiert den Ausfall

Diese Dosiskompensation kommt auch bei der Weissen Lichtnelke vor. ETH-Forscher Niklaus Zemp und Alex Widmer, Professor für ökologische Pflanzengenetik, konnten dies in Zusammenarbeit mit Kollegen von der Universität Lyon anhand genetischer Studien zum ersten Mal bei einer Pflanze nachweisen. Gene des männlichen X-Chromosoms werden umso stärker abgelesen, je schwächer die Expression der Gene des Y-Chromosoms ist. Die Expressionsmuster in männlichen und weiblichen Pflanzen zeigten ähnliche hohe Werte von den Genen, die auf den Geschlechtschromosomen liegen, und zwar unabhängig davon, wie stark das Y-Chromosom überhaupt abgelesen wurde.

X kompensiert also für den Ausfall von Y, so dass männliche und weibliche Pflanzen auf die gleiche Dosis kommen. «Die Dosiskompensation konnte bisher nur in dem sehr alten Geschlechtschromosomen-System bei Tieren beobachtet werden», sagt Widmer. Dieses sei vor rund 150 Mio. Jahren entstanden. Die Weisse Lichtnelke ist nun die erste Pflanze, bei der dieses Phänomen nachgewiesen werden konnte.

Ein junges System

Für die Biologen heisst dies auch, dass die Dosiskompensation bei Pflanzen erst vor kurzer Zeit entstanden ist und dass sie sich, kaum taucht das Geschlechtschromosomen-System in einem Organismus auf, sehr rasch entwickeln kann. Widmer schätzt, dass das System, wie es in der Weissen Lichtnelke anzutreffen ist, «erst» 10 Mio. Jahre alt, entwicklungsgeschichtlich also noch jung ist. «Unsere Befunde deuten aber auch darauf hin, dass 10 Mio. Jahre reichen, um in der Evolution das System Dosiskompensation neu zu erfinden.»

Für ihre Untersuchung analysierten die ETH-Wissenschaftler rund 35 Milliarden Bausteine des genetischen Codes aus sechs Pflanzenindividuen. Dazu benötigten sie modernste Sequenziertechnologie, so genanntes Next Generation Sequencing. Diese erlaubt es, den genetischen Code mit hoher Geschwindigkeit und Präzision zu bestimmen.

Dosiskompensation und Trisomie 21

Dosiskompensation ist für Organismen enorm wichtig. Bei der Reifeteilung der Geschlechtszellen des Menschen kann es beispielsweise vorkommen, dass gewisse Chromosomen nicht sauber aufgeteilt werden. Dadurch erhält eine Eizelle nur ein betreffendes Chromosom, die andere aber drei. Die «Überproduktion», die von einem der überzähligen Chromosomen ausgeht, kann zu schweren Schäden führen. Beim Menschen ist etwa Trisomie 21 ein seltenes aber verbreitetes Phänomen. Betroffene haben das Chromosom 21 in dreifacher Ausführung. Die Überdosis von Genprodukten dieses Chromosoms führt zum charakteristischen Krankheitsbild.

Literaturhinweis

Muyle A, Zemp N, Deschamps C, Mousset S, Widmer A, et al. (2012) Rapid De Novo Evolution of X Chromosome Dosage Compensation in Silene latifolia, a Plant with Young Sex Chromosomes. doi:10.1371/journal.pbio.1001308

 
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