Veröffentlicht: 14.10.11
Globetrotter

China, ich komme...

ETH-Student Leonardo Schneider absolviert in China ein Industriepraktikum. Der angehende Maschineningenieur über die Tücken des chinesischen Alltags und für ihn unverständliche Busfahrpläne.

Leonardo Schneider
Auf dem Markt: Hühnchen, auf unterschiedlichste Art und Weise zubereitet.
Auf dem Markt: Hühnchen, auf unterschiedlichste Art und Weise zubereitet. (Grossbild)

Ein Traum wird wahr: Nun bin ich in Changshu – zum ersten Mal in China (oder vielmehr in Asien). Ich fühle mich fit und, nach den stressigen Abschlussprüfungen meines Bachelors in der Schweiz, freue ich mich über den gewaltigen Kulturschock.

Nach einer endlos langen Reise über Dubai und Shanghai bin ich sicher und gesund gelandet. In Dubai habe ich zusammen mit reichen Arabern und ihren vollständig verschleierten Frauen, iranischen Teppichverkäufern sowie einer Frau aus Ghana und einem Briten samt seiner blonden Ehefrau im Minirock auf den Weiterflug gewartet. Natürlich warteten dort auch viele Chinesen und eine Delegation von Indern. Das Flugzeug war ein Schmelztiegel der Kulturen!

Chaos auf der Autobahn

Die Fahrt vom Flughafen Shanghai nach Changshu kam mir vor wie ein Wettrennen. Jeder fährt auf der Autobahn, wie er gerade Lust hat: Ohne Zeichen zu geben, wird auf der linken, rechten und der mittleren Spur oder sogar auf dem Standstreifen überholt, wenn es auf den anderen drei Spuren nicht mehr vorwärts geht, oder es wird einfach angehalten und gewendet, sollte man die Ausfahrt verpasst haben. Die Funktion des Seitenstreifens wird ignoriert und derjenige, der das grössere Fahrzeug hat, macht sich nicht einmal die Mühe, nach rechts oder links zu schauen, bevor er die Richtung ändert. Mein Adrenalinspiegel war höher als nach einem Ritt auf dem «Silver Star»! Ich war überglücklich, dass ich vom Flughafen abgeholt wurde, weil ich aus dem Busfahrplan nicht schlau geworden wäre.

Algen, gemischt mit Reis

Ich kam also vor knapp zwei Wochen in Changshu an – das ist eine «kleine» Stadt nahe Shanghai in der Provinz Jiangsu mit einer Bevölkerung von über zwei Millionen Menschen und wahrscheinlich nicht einmal 100 Westlern. Es kann passieren, dass man sich beim Gang zum Supermarkt fühlt wie ein Tier im Zoo, nur ohne den Käfig. Die Menschen bleiben stehen und starren einen an oder drehen sich im Vorbeigehen um und schauen einem hinterher. Ein merkwürdiges Gefühl! Ich werde einige Zeit brauchen, um mich daran zu gewöhnen. Ich weiss natürlich, dass die Menschen nur neugierig und nicht unhöflich sind.

In der Strasse, in der sich meine Pension befindet, gibt es viele kleine Restaurants und Take Aways. Die meisten sind Familienbetriebe. Das Essen dort ist wirklich preiswert (ein oder zwei Schweizer Franken) und ziemlich gut. Die ganze Familie hilft mit, während die jüngeren Kinder um die Tische herumtollen. Die Grosseltern, die Eltern und die älteren Kinder krempeln die Ärmel hoch und packen mit an. Die Kinder in dem ersten Restaurant, in dem ich abends etwas ass, waren fasziniert von mir. Sie strahlten mich die ganze Zeit an und zeigten mir, wie man das Essen isst. Die Algen müssen mit dem Reis gemischt und dürfen nicht separat gegessen werden. Die Chinesen trinken auch viel Sojamilch und schlürfen ihre Suppe so laut wie möglich! Zum Frühstück kann man eine typische Nudelsuppe mit zwei darin schwimmenden, gebratenen Eiern essen – so früh am Morgen ist das für mich noch immer eine Herausforderung…

Am ersten Wochenende ging ich über einen örtlichen Wochenmarkt und staunte über all die Dinge, die man dort kaufen kann. Es gab Reisaale, Frösche, viel Hühnchen (lebendig oder auf jede nur erdenkliche Art zubereitet), unterschiedlichen Fisch und Meeresfrüchte, viele verschiedene Gemüsesorten und noch einiges mehr. Es gab eine Vielzahl unterschiedlicher Gerüche – sowohl gute als auch schlechte. Einer der Marktverkäufer war sehr aufgeregt, weil ich ein Foto von ihm machte. Die Laute, die er von sich gab, und das Gelächter der Menschen um ihn herum, führten dazu, dass ich mich anfänglich unwohl dabei fühlte, aber dann wurde mir klar, dass sie sich einfach freuten. Ich muss einer der ersten Westler gewesen sein – wenn nicht sogar der erste – den sie jemals gesehen hatten.

Sprache als grosse Hürde

Mein Praktikum bei Novartis fing gut an und alle meine Kollegen versuchen, mir so gut wie möglich zu helfen. Das Werk mit all seinen Reaktoren, Zentrifugen, Rohrleitungen und Laboren ist sehr interessant. Dort werden viele Grundstoffe für die weitere Verarbeitung in Basel hergestellt. Der Arbeitstag beginnt um 6.45 Uhr. Ich frühstücke in einem der kleinen Restaurants in der Nähe, bevor ich den Shuttlebus in das Industriegebiet ausserhalb der Stadt nehme. Am Anfang hat mich jeder im Bus angestarrt, aber da ich jeden Morgen denselben nehme, haben sich die Leute schon an mich gewöhnt. Die Fahrt verlangt mir 50 Minuten lang einigen Mut ab; der Fahrer ist nicht ganz so achtsam wie seine eidgenössischen Kollegen.

Die Sprache ist ein fast unüberwindliches Hindernis, das zwischen mir und den Einheimischen steht. Im Unternehmen kann ich mich mit fast allen in den Büros auf Englisch unterhalten. Aber sobald ich in den Betrieb gehe, habe ich keine Möglichkeit, mit den Arbeitern zu kommunizieren, die nur Chinesisch oder ihre lokalen Dialekte sprechen. Wenn meine Kollegen anfangen, Chinesisch zu sprechen, habe ich keine Chance mehr. Ich hoffe, dass ich wenigstens ein bisschen Fachjargon lerne, aber ich vermute, dass dies angesichts des Systems mit verschiedenen Tonhöhen sehr aufwändig sein wird. Das gleiche Wort hat je nach Intonation eine ganz andere Bedeutung. Sobald ich das Firmengelände verlasse, bin ich ganz auf mich alleine gestellt. Die Einheimischen verstehen wirklich kein Wort Englisch und ohne mein ‚Ohne-Wörter-Buch‘ (ein bebildertes Wörterbuch für Reisende), wäre ich verloren.

Ihr habt vielleicht bemerkt, dass es in letzter Zeit kaum Nachrichten über ‚Yours Truly‘ gab: Nun, Facebook ist in China verboten und Skype wird eingeschränkt. Aber keine Sorge. Wie meine Oma sagen würde: Keine Nachrichten sind gute Nachrichten!

Zur Person

Der 24-jährige Leonardo Schneider studiert im 7. Semester am Departement Maschinenbau und Verfahrenstechnik (D-MAVT). Der schweizerisch-brasilianische Doppelbürger absolviert derzeit ein Industriepraktikum bei Novartis in China.