Veröffentlicht: 09.09.11
Globetrotter

Japans Besonderheiten

Nicht immer einfach: Japan kennt zahlreiche Verhaltensnormen und Gebräuche, die westlichen Besuchern oder Firmen nicht geläufig sind. Globetrotter Thomas Geissmann beschreibt, wie er dies während seines Austauschsemesters wahrgenommen hat – manchmal mit einem Schmunzeln, manchmal mit Erstaunen.

Thomas Geissmann
Gut essen ist in Japan eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen. Die angebotenen Speisen werden mit Hilfe von Nachbildungen aus Plastik in den Schaufenstern der Restaurants präsentiert. (alle Bilder: T. Geissmann)
Gut essen ist in Japan eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen. Die angebotenen Speisen werden mit Hilfe von Nachbildungen aus Plastik in den Schaufenstern der Restaurants präsentiert. (alle Bilder: T. Geissmann) (Grossbild)

Im Vergleich zur mir gewohnten westlichen Kultur der Schweiz weist die japanische zahlreiche Unterschiede auf. In meinem letzten Globetrotter-Bericht beschrieb ich sehr angenehme Aspekte dieser Unterschiede, wie die ausserordentliche Freundlichkeit, Zurückhaltung und Rücksichtnahme. Währenddem diese Eigenschaften ein gesittetes und geordnetes Zusammenleben in einer derart dicht bevölkerten Region wie Tokio wohl überhaupt erst ermöglichen, so bringen mich andere zu einem Schmunzeln - und manchmal auch etwas ins Staunen.

Niedriger Ausländeranteil

Japan, auch heute noch eine der einzigen industrialisierten Nationen Asiens, war mehrere Jahrhunderte lang durch eine von den damaligen Machthabern gewollte Abschottung vom Rest der Welt getrennt. Damals wurde alles vertrieben, was sich dem aus über 6800 Inseln bestehenden Archipel näherte. Seit rund 150 Jahren ist dies zum Glück nicht mehr der Fall, dennoch beträgt der Ausländeranteil in Japan derzeit lediglich zirka 1,5%, wobei es sich bei den Ausländern mehrheitlich um Chinesen, Koreaner und Südostasiaten handelt. Der Anteil der Europäer und Amerikaner an der Gesamtbevölkerung liegt im Promillebereich. Die Japaner sind also vorwiegend unter sich. Viele haben denn auch, sofern sie nicht an einer international ausgerichteten Universität oder Firma gearbeitet haben, kaum direkten Kontakt zu Personen aus dem Westen gehabt. Vor allem in ländlichen Gebieten merkt man die Überraschung der lokalen Bevölkerung, auf Nicht-Japaner zu treffen.

Generell sind die Arbeitstage an japanischen Universitäten und insbesondere bei Firmen länger als in der Schweiz. An meinem Lab galt es als ein besonderer Ausdruck von Einsatz, wenn ein Student oder eine Studentin vor der alle zwei Wochen wiederkehrenden Präsentation seiner Forschungstätigkeiten die Nacht zuvor im Lab verbracht hat. Dazu wird jeweils eine kleine Matte ausgerollt oder es werden ein paar Bürostühle zu einer Liegefläche zusammengeschoben. Diese Praxis wird sogar dann aufrechterhalten, wenn man zu Fuss nur 10 Minuten vom Lab entfernt wohnt.

Krankheit als Urlaub

Lange Arbeitszeiten gelten in Japan als soziale Norm. Der Arbeitsoutput ist aber oft in etwa gleich, wodurch die Frage der Effizienz gestellt wird. Auf gesetzlicher Ebene sind 2000 Arbeitsstunden zugelassen (52 Wochen à 40 Stunden), abzüglich eines Mindestanspruchs auf 10 Tage Urlaub. Diese Regelung ist jedoch wohl eine der wenigen, auf die nicht sonderlich viel Wert gelegt wird. Eine mir bekannte Firma beweist immerhin jeden Mittwochabend ihren guten Willen: Sie lässt zum Zeichen, dass jetzt Feierabend gemacht werden kann, um 17.30 eine Melodie erklingen, welche die Mitarbeiter aber ignorieren. Krankheitstage werden häufig als Urlaubstage eingezogen, da die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erst nach vier Tagen einsetzt. Um die wenigen Urlaubstage, welche bei den Unternehmungen meistens vierzehn Tage betragen, überhaupt in Anspruch nehmen zu können, vermeiden Arbeitnehmende unter allen Umständen, krank zu werden - und schon gar nicht will man Drittpersonen anstecken. Japaner tragen deshalb häufig Atemschutzmasken; nicht etwa wegen dem Smog, denn die Luftqualität in Tokio ist für eine Stadt mit dieser Bevölkerungsdichte sehr gut. Es gilt die implizite Regelung, dass der Urlaub gestaffelt eingezogen wird, um die Arbeitskollegen nicht zu lange durch ein Fernbleiben zu belasten. Für grosse Reisen ist die zur Verfügung stehende Zeit deshalb sehr knapp.

In Japan sind zahlreiche Aspekte der sozialen Interaktion in Watte gepackt; dies gilt insbesondere für die Kommunikation, wo vieles «durch die Blume» mitgeteilt wird und wo Freundlichkeitsbekundungen eine wichtige Rolle spielen. Man bedankt und entschuldigt sich viel häufiger, als ich mich dies von der Schweiz gewohnt war. Zu direkte Aussagen werden häufig vermieden, um unter anderem nicht forsch und damit unhöflich zu wirken. Aufgrund des dadurch vorhandenen Interpretationsspielraums wird ausserdem das Risiko von Falschaussagen verringert.

Kritik vermeiden

Direkte Kritik zu üben wird wenn möglich vermieden und erfolgt stattdessen meistens indirekt oder in fragender Form. Politiker jedoch werden oft ungewohnt deutlich kritisiert. Dies mag ein Grund dafür sein, weshalb sich in Japan in den letzten fünf Jahren die Premierminister in derselben Regelmässigkeit die Klinke in die Hand gedrückt haben wie die Bäume ihre Blätter abwerfen. Ein weiterer Grund dafür sind wohl auch die Unmengen von Interessensgruppen und Verflechtungen zwischen der japanischen Wirtschaft und der Politik. Die Gruppierungen versuchen jeweils, den ihnen gelegenen Kandidaten an die Macht zu bringen, und den, der sich gerade dort befindet, so schnell als möglich ins Abseits zu befördern.

Regeln, Normen und genau geplante Prozesse sind in Japan in unendlicher Vielfalt in den sozialen und wirtschaftlichen Alltag eingewoben. Sie ermöglichen ein geordnetes Zusammenleben, und in industriellen Prozessen sind sie in Form von Standards aus Effizienzgründen unabdingbar. Ein Beispiel für die genau vorgezeichneten Prozesse sind die Formulare aller Art, mit welchen man in Japan häufig konfrontiert wird. An der rechten oberen Ecke sind jeweils mehrere kleine Kästchen angebracht, wo mittels Stempel von den zuständigen Personen signiert werden kann. Es wird dabei genau angegeben, wer in welcher Abfolge seinen Stempel zu setzen hat.

Obwohl Japan eine Insel ist, fühlt sich die Bevölkerung nicht stark zum Meer hingezogen, sondern eher zum Landesinneren. Die zahlreichen Tsunamis der Geschichte werden dazu wohl ein Stück beigetragen haben. Segelsport wird in Japan daher beispielsweise kaum betrieben. Den Tag an einem Strand zu verbringen, ist ebenso vergleichsweise unpopulär. Ein Grund dafür ist auch, dass insbesondere bei japanischen Frauen helle Haut dem Schönheitsideal entspricht. Als ich selbst mal einen Strand in der japanischen Provinz besuchte, stellte ich verwundert fest, dass, obwohl der Strand sehr lang war, sich alle Besucher auf einer relativ kleinen Fläche zusammenfanden. Auf die Frage, weshalb alle an dieser Stelle ihre Tücher auslegen, lautete die Antwort, dass der Bademeister nur diesen Abschnitt überwacht. Als der Bademeister um fünf Uhr nachmittags nach Hause ging, packten auch alle anderen ihre Sachen und machten sich auf den Heimweg.

Starke Lobbies

Die impliziten und expliziten Regeln, Normen und erwarteten Verhaltensweisen erschweren vielen westlichen Firmen den Eintritt in den japanischen Markt, die drittgrösste Volkswirtschaft der Welt. Ausserdem sind nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft die zahlreichen Interessensgemeinschaften sehr einflussreich: Will beispielsweise ein Energiekonzern ein Tiefseekabel verlegen, schaltet sich die Lobby der Fischer ein. Sie fordert dann eine Entschädigung für die Fischer, da die Magnetfelder des Kabels die Fischbestände beeinflussen könnten. Die geographische Lage Japans, wo sich mehrere tektonische Platten in die Quere kommen, führt neben zahlreichen Erdbeben auch zu einem relativ hohen Potential zur Energiegewinnung aus Geothermie. Doch gegen wirtschaftlich sinnvolle Projekte wehrt sich häufig mit Erfolg die Onsen Lobby, da durch die Geothermie-Projekte die Heisswasserquellen der Onsen, der Thermalbäder, betroffen sein könnten. Onsen sind in Japan so beliebt wie die Sauna bei den Finnen.

Neben den Interessensgemeinschaften und Umgangsformen, mit denen westliche Firmen oft nicht vertraut sind, erschweren auch andere Aspekte den Markteintritt: Japan schottet den inländischen Markt durch zahlreiche Standards ab, die oft praktisch ausschliesslich von japanischen Firmen bedient werden. Insbesondere in der Energiebranche ist es für westliche Unternehmen schwierig, Geschäfte zu machen: Den Strommarkt in Japan machen die zehn Electrical Power Companies (EPCOS) unter sich aus. Bis vor Fukushima sind diese Firmen buchstäblich im Geld geschwommen, und selbst wenn ein japanischer Lieferant bei gleicher Qualität zehnmal so teuer war als die ausländische Konkurrenz, so wurde das Japanische Produkt vorgezogen. Darin inbegriffen ist eine implizit erwartete lebenslange Garantie seitens des Herstellers für das gelieferte Produkt, was diesen nun im Falle von Fukushima teilweise teuer zu stehen kommt. Hat eine japanische Firma zudem nach langer Evaluation einen (japanischen) Lieferanten bestimmt, so wird dieser ohne sehr schwerwiegende Gründe nicht mehr gewechselt.

Die Japaner, welche selbst mal den Westen bereist oder dort gelebt haben, sind sich der kulturellen Unterschiede selbst bewusst, woraus sich unterhaltsame Gespräche ergeben. Auch wenn die hier geschilderten Eigenschaften manchmal etwas klischiert gewirkt haben mögen, so gestalteten sie meinen Aufenthalt in Tokio umso lehrreicher und wertvoller.

Zum Autor

Thomas Geissmann studiert am Departement Management, Technologie und Ökonomie (D-MTEC). Er absolviert derzeit ein Austauschsemester am Tokyo Institute of Technology und ein Praktikum bei ABB K.K. (Japan) im Bereich Smart Grid. Vom Tokyo Tech hat er ein Kikin-Scholarship erhalten und von der ETH Zürich ein Reisestipendium.

 
Leserkommentare: