Veröffentlicht: 28.07.11
Science

Die Rechenstütze

ETH-Professor Markus Gross hat Erfahrung mit der Entwicklung von Therapiesoftware gegen Lernschwächen. Nach einem erfolgreich lancierten Programm gegen Schreibschwäche entwickelt derzeit seine Doktorandin Tanja Käser ein Programm gegen Rechenschwäche. 120 Schüler sind ausgewählt, das Programm auf Herz und Nieren zu testen.

Simone Ulmer
Lösung einer Additionsaufgabe im Hunderterraum. (Bild: Dybuster/Computer Graphics Laboratory)
Lösung einer Additionsaufgabe im Hunderterraum. (Bild: Dybuster/Computer Graphics Laboratory) (Grossbild)

Beherrschen Kinder oder Erwachsene die arithmetischen Grundlagen wie die Grundrechenarten oder das Dezimalsystem nicht und haben keinen Bezug zum Zahlenbegriff, kann es sich um eine Rechenschwäche handeln, die im Fachjargon Dyskalkulie genannt wird. Die ETH-Doktorandin Tanja Käser entwickelt während ihrer Doktorarbeit am Institut für Visual Computing der ETH Zürich eine Therapiesoftware, mit der solche Rechenschwächen überwunden werden sollen. Käser ist Informatikerin und wünschte sich schon immer, interdisziplinär zu arbeiten. Ihr Traum war, die Informatik mit Problemstellungen aus dem medizinischen und psychologischen Bereich zu kombinieren. So kam sie zu ETH-Professor Markus Gross, der bereits erfolgreich eine Software zur Behebung von Legasthenie entwickelte und sich nun gemeinsam mit Forschern des Kinderspitals Zürich dem Problem der Dyskalkulie zugewandt hat.

Wenn die Vorstellung fehlt

Kinder mit Dyskalkulie haben Mühe sich vorzustellen, wo auf dem Zahlenstrahl eine bestimmte Zahl liegt. «Sie können zwar auf zwanzig zählen, aber das ist eher als würden sie das Alphabet aufsagen», sagt Käser. Die Kinder haben keine Vorstellung, dass die Zahl fünf auch fünf Punkte oder fünf Sachen sein können, und dass sie in der Mitte zwischen 0 und 10 liegt. Beim Addieren oder Subtrahieren müssen sie meist die Finger zu Hilfe nehmen.

Die von Käser programmierte Software zur Therapie dieser Rechenschwäche basiert auf dem sogenannten Vier-Stufen-Modell. Es besagt, dass im Gehirn, ausgehend von einer frühen Fähigkeit zur Mengenunterscheidung, drei neuronale Module heranreifen, die nötig sind, um Zahlen zu «begreifen»: In einem der Module ist die Zahl als gesprochenes Zahlwort erfasst, im nächsten Modul als arabische Zahl und im dritten, dem analogen Modul, als Ort in einem Zahlenraum (Zahlenstrahl). Die drei Module werden miteinander verknüpft und aufgabenbezogen aktiviert. Bei einer Dyskalkulie ist in einem der vielen Entwicklungsschritte etwas fehl gegangen, und eines oder mehrere Module sind nicht vollständig entwickelt.

Zielgenau auf den Zahlenstrahl

Die Software gegen Dyskalkulie zeigt und trainiert Zahlen deshalb entsprechend dieser drei Module. Einer-, Zehner- und Hunderter-Zahlen sind einer bestimmten Farbe zugeordnet. Mit den Farben möchte die Wissenschaftlerin den Kindern den Zahlenbegriff leichter zugänglich machen, da im Deutschen eine der Schwierigkeiten darin besteht, dass die Einer immer vor den Zehnern genannt werden. Im Spiel werden die Zahlen für das Kind in arabischer und gesprochener Form dargestellt. Anhand einer Punktemenge muss es schätzen, wie viele Punkte zu sehen sind, um den Schätzwert als Pfeil auf dem darunterliegenden Zahlenstrahl am richtigen Ort auftreffen zu lassen. In der Theorie stellt man sich die drei Module miteinander verknüpft vor, und je nach Input wird vom Gehirn auf sie zugegriffen. «Beispielsweise fängt ein Kind an, vier Objekte zu erkennen, die es später zählen kann, und für die es dann in der Schule die arabische Notation lernt. Basierend darauf entwickelt es eine Vorstellung der Zahl auf dem Zahlenstrahl», sagt Käser.

120 Kinder im Test

Tanja Käser entwickelte ihr Therapieprogramm «Calcularis» in enger Zusammenarbeit mit dem Kinderpsychiater Michael von Aster. Aster leitet in Potsdam, Berlin und Zürich ein Verbundprojekt zur Dyskalkulie, in dem die neue Dyskalkulie-Lernsoftware evaluiert wird. In Berlin und Potsdam arbeiten 120 Kinder bis 2012 mit dem Programm. 60 Kinder davon mit und 60 ohne Dyskalkulie. Sie wurden anhand mehrstündiger Tests ausgesucht um beispielsweise sicherzustellen, dass jene mit Rechenschwäche tatsächlich eine Dyskalkulie haben. Die Kinder zwischen 8 und 11 Jahren lösen dann über sechs Wochen fünf Mal pro Woche 20 Minuten lang Rechenaufgaben am Computer. Danach folgen wieder Tests. Als Kontrolltraining dient die Legasthenie-Software Dybuster. Mit ihr spielen die Hälfte der Kinder, damit man zeigen kann, dass Kinder, die mit einem anderen Trainingsprogramm spielen, nicht besser in Mathematik werden, und ein verbesserter Lernerfolg auf Calcularis zurückzuführen ist.

Das Spiel beginnt mit der einfachsten Stufe, in welcher der Zahlenstrahl von 0 bis 10 reicht. Ist diese Stufe bewältigt, arbeiten die Kinder mit Zahlen von 0 bis 100, die schwierigste Stufe ist der Zahlenraum, der von 0 bis 1000 geht. Damit das Spiel adaptiv ist, hat Käser den Spielaufbau in verschiedene Fähigkeiten wie etwa Schätzen, Zählen, Transkodieren und Zuordnen aufgesplittet. Alle müssen von den Kindern beherrscht werden, damit sie in den nächsten Spiellevel gelangen können.

Durch die Aufteilung entstand ein Netzwerk aus den einzelnen Komponenten, das gleichzeitig abbildet, wie die Schritte des Verstehens des Zahlenraums miteinander verknüpft sind. Lernt ein Kind schnell, kann es relativ rasch aus einem bestimmten Schwierigkeitsgrad heraus in die nächsthöhere Stufe wechseln - ohne alle Aufgaben des Levels gelöst zu haben. Lernschwächere Kinder hingegen müssen im Zweifelsfall alle Aufgaben lösen. Das Programm ist auch in der Lage, spezielle Fehlermuster wie etwa Zahlendreher zu erkennen, und hilft den Kindern, spezifische Schwächen zu überwinden. So müssen sie alle anderen damit gekoppelten Aufgaben im «Netz», die sie in diesem Level schon gut beherrschen, nicht immer wieder neu lösen.

Schätzen und rechnen

Das Therapieprogramm ist so angelegt, dass die Aufgaben immer aus zwei Teilen bestehen. Einerseits gibt es Spiele, die das Zahlenverständnis stärken. Hier schätzen die Kinder die Anzahl abgebildeter Punkte und bestimmen die Lage der Zahl auf dem Zahlenstrahl. Das Gleiche tun sie mit gesprochenen oder arabischen Zahlen. Dadurch wird die Zahlenvorstellung trainiert. Der zweite Teil besteht aus Rechenoperationen wie Addition und Subtraktion. Die beiden Spielteile werden jeweils zehn Minuten gespielt.

Das Lösen der Aufgaben ist nicht zeitbeschränkt, damit die Kinder nicht unter Stress geraten. Die Zeit, welche die Kinder brauchen, um eine Aufgabe zu lösen, wird aber gemessen, um die durchschnittliche Antwortzeit abzuschätzen. Käser hofft, dass sie dadurch die Prozesse des sogenannten Automatisierungslernens erfassen kann.

Mehr loben

Käser analysiert die Nutzerprofile und wertet sie aus, um das Programm zu optimieren. Mit den Daten werden Lernkurven geschätzt und die Verknüpfungen im Netzwerk verbessert. Ausserdem arbeitet sie noch daran, die Kinder für erfolgreiche Lernschritte unmittelbar zu loben und ihre Freude am Lernen zu steigern.

Zum Projekt

Das Programm wurde von Tanja Käser programmiert. Die hinter dem Programm stehende Graphik stammt von dem ETH Spin-off «Dybuster», der sich auf der Basis des gleichnamigen, erfolgreichen Lernprogramms gegen Legasthenie entwickelte.

 
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