Veröffentlicht: 18.07.11
Science

Von der Zweisprachigkeit profitieren

Zweisprachige Kinder, die schlecht Deutsch sprechen, werden in der Regel mit Leistungs- und Sprachdefiziten in Verbindung gebracht. Eine neue Studie zeigt auf, dass die Zweisprachigkeit – auch wenn sie schlecht ausgebildet ist – mit einem beachtlichen und überraschenden Vorteil verbunden ist, der zum Beispiel im Mathematik-Unterricht sichtbar wird.

Interview: Gaby Schweizer
Zweisprachige Schüler aus Migrantenfamilien haben im Mathematikunterricht dank ihrer Zweisprachigkeit auch Vorteile. (Bild: istockphoto)
Zweisprachige Schüler aus Migrantenfamilien haben im Mathematikunterricht dank ihrer Zweisprachigkeit auch Vorteile. (Bild: istockphoto) (Grossbild)

An der soeben publizierten Studie beteiligte sich Henrik Saalbach, Oberassistent am Institut für Lern- und Lehrforschung der ETH Zürich. Die Studie räumt teilweise mit der Vorstellung auf, dass zweisprachige Kinder mit teils mangelhaften Deutschkenntnissen aus Einwandererfamilien in der Schule zwangsläufig einen schweren Stand haben. Sie zeigt, dass diese Kinder gerade in Mathematik einen Vorteil haben, da sie dank der Zweisprachigkeit unwichtige von wichtigen Informationen besser «herausfiltern» können. Im Interview erklärt Henrik Saalbach, wie dieser kleine aber feine Unterschied auch genutzt werden kann.

Zahlreiche Studien zeigen: Kinder mit Migrationshintergrund, welche die Unterrichtssprache schlecht beherrschen, haben mehr Probleme in der Schule, sowohl in sprachlichen Fächern, als auch in der Mathematik. Stimmt das?
Henrik Saalbach:
Ja, denn auch in der Mathematik spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Die Schülerinnen und Schüler müssen einerseits die Anleitungen im Unterricht verstehen, andererseits werden mathematische Funktionen durch bestimmte grammatikalische Strukturen ausgedrückt, die sie richtig interpretieren müssen. Wörter wie «mehr als» oder «weniger als» sind entscheidend, um aus einem Text ein mathematisches Problem zu extrahieren.

Dass die Sprachkompetenz für das Lösen einer Textaufgabe wichtig ist, leuchtet ein. Sind aber nicht arithmetische Fähigkeiten eines Kindes viel bedeutender?
Die Studie, die ich in Zusammenarbeit mit der Universität Frankfurt durchgeführt habe, hat diesbezüglich ein sehr wichtiges Ergebnis hervorgebracht: Um Textaufgaben zu lösen, ist die Sprachkompetenz ebenso wichtig wie die arithmetische Kompetenz eines Kindes. Hingegen spielen Intelligenz oder der sozioökonomische Status eine untergeordnete Rolle.

Demnach müssten die Kinder, die von Haus aus die Unterrichtssprache sprechen, Textaufgaben besser lösen können als die zweisprachigen Kinder mit Migrationshintergrund?
Ja, bei ganz normalen Textaufgaben, wie sie oft in Schulbüchern zu finden sind, schon. Dort beeinflusste die Sprachkompetenz die mathematische Problemstellung deutlich.

Und dennoch hat Ihre Studie ein entscheidendes und überraschendes Resultat hervorgebracht: Bei einem gewissen Typ von mathematischen Textaufgaben hat die Zweisprachigkeit von Kindern mit Migrationshintergrund einen klaren Vorteil. Welchen?
Dies ist ein sehr wichtiges und neues Ergebnis. Wir konnten zeigen, dass es den Kindern mit Migrationshintergrund leichter fällt, belanglose oder überflüssige Information in einer mathematischen Textaufgabe zu ignorieren. Beispielsweise wird in einer solchen Aufgabe der Preis einer Murmel genannt, obwohl dieser für die Lösung nicht relevant ist. Die zweisprachigen Kinder mit Migrationshintergrund können sich besser auf die relevante Information konzentrieren, als ihre einsprachigen Klassenkameraden.

Wenn Sie also eine Textaufgabe mit irrelevanten Informationen bestückten...
... dann schmolz der Leistungsunterschied zwischen den einsprachigen und den zweisprachigen Kindern dahin: Die Zweisprachigen mit schlechten Deutschkenntnissen lösten diese Aufgaben gleich gut wie ihre deutschsprachigen Klassenkollegen. Man kann es auch so ausdrücken: Die «kognitiven Kosten», die aufgrund der irrelevanten Informationen entstehen, sind bei den zweisprachigen Kindern geringer.

Mathematische Aufgaben im Alltag weisen eine Menge überflüssiger Informationen auf, die man unterdrücken muss. Auch mit fortschreitendem Schulalter werden Kinder vermehrt an solche Aufgaben herangeführt. Könnten sich die Vorteile der Zweisprachigkeit auch hier auswirken?

Hier steht die Forschung am Anfang, insbesondere im Hinblick auf die Zielgruppe der Kinder mit Migrationshintergrund. Grundsätzlich lässt sich aber nicht ausschliessen, dass sie auch hier Vorteile haben könnten.

Woher kommt denn die Fähigkeit von zweisprachigen Kindern, irrelevante Informationen besser herausfiltern zu können?
Die Forschung nennt diese Fähigkeit «Aufmerksamkeitskontrolle». Ein Kind, das oft von der einen in die andere Sprache wechselt, muss permanent eine Sprache unterdrücken. Diesen Mechanismus betrachten Wissenschaftler als Kern der zuvor geschilderten Fähigkeit. Wie häufig Kinder die Sprache wechseln, bestimmt also mit, wie gut ihre Aufmerksamkeitskontrolle ausgebildet ist.

Profitieren «starke» und «schwache» zweisprachige Kinder gleichermassen von diesem Effekt?
Nein, da gibt es Unterschiede: Je höher die Sprachkompetenz, desto grösser der Effekt: Die starken zweisprachigen Kinder schneiden in Aufgaben, die eine Aufmerksamkeitskontrolle erfordern, noch besser ab, als Kinder mit eher schwachen Sprachkompetenzen.

Wurden solche Ergebnisse schon in anderen Gebieten gefunden?
Ähnliche Untersuchungen, die Vorteile der Aufmerksamkeitskontrolle bei Zweisprachigkeit aufzeigten, wurden bislang nur mit Zweisprachigen, die beide Sprachen nahezu perfekt beherrschen, durchgeführt. Dass auch Kinder, die mindestens eine der beiden Sprachen schlecht sprechen, von der erhöhten Aufmerksamkeitskontrolle profitieren – und dies in einem schulischen Kontext – können wir nun zum ersten Mal nachweisen.

Wie lassen sich Ihre Ergebnisse auf die Praxis übertragen? Die Unterrichtsprache zu beherrschen, scheint nach wie vor ein entscheidender Faktor für den Schulerfolg zu sein – insbesondere auch in der Mathematik.
Es steht ausser Frage, dass die Kompetenz in der Unterrichtssprache bei Kindern mit Migrationshintergrund gefördert werden muss. Diese Förderung ist aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Sprache und Mathematik zum Beispiel auch als Teil des Mathematikunterrichts denkbar. Dort könnte man Sprachförderung einbauen.

Und was ist von der Vorstellung zu halten, dass zweisprachige Kinder mit Migrationshintergrund vor allem mit Nachteilen zu kämpfen haben?
Darum geht es hier. Zweisprachigkeit ist auch eine wertvolle Ressource, die gefördert werden sollte! Damit können die Kinder anderes kompensieren. Muttersprachliche Kompetenzen sollten – auch im häuslichen Umfeld – weiterentwickelt werden. Die Zweisprachigkeit der Kinder mit Immigrationshintergrund ist also sicherlich kein Makel.

Literaturhinweis

Kempert S, Saalbach H & Hardy I. Cognitive Benefits and Costs of Bilingualism in Elementary School Students: The Case of Mathematical Word Problems. Journal of Educational Psychology. Advance online publication, June 20, 2011, doi: 10.1037/a0023619

 
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