Veröffentlicht: 22.06.11
Kolumne

Fukushima und die Folgen für die Schweiz

Renate Schubert
Renate Schubert, Professorin für Nationalökonomie der ETH Zürich und Delegierte des Präsidenten für Chancengleichheit. (Bild: zVg R. Schubert)
Renate Schubert, Professorin für Nationalökonomie der ETH Zürich und Delegierte des Präsidenten für Chancengleichheit. (Bild: zVg R. Schubert) (Grossbild)

So richtig beliebt waren sie eigentlich nie, die Schweizer Atomkraftwerke. Aber dennoch schienen sie eine gute und wichtige Rolle in der Schweizer Stromversorgung zu spielen. Der Strom ist nicht sehr teuer und noch dazu fast frei von CO2-Emissionen – das war doch eine gute Ergänzung zur ebenfalls «sauberen» Wasserkraft. So lag es nahe, die künftig drohende «Stromlücke» der Schweiz durch die Produktion von zusätzlichem Atomstrom in zusätzlichen AKWs schliessen zu wollen.

Ein gewisses Unbehagen stellte sich allerdings im Zusammenhang mit der Endlagerung der nuklearen Abfälle ein. Gemeinden in der Nähe geologisch geeigneter Standorte waren trotz mühevoller Prozesse mit viel Partizipation und hohen Kompensationsangeboten nicht bereit, solche Endlager zu akzeptieren. Zu gross war die Abneigung, die eigenen Kinder, Enkel oder weitere Generationen der Gefahr auszusetzen, dass die teilweise auf Jahrhunderte hin radioaktiv strahlenden Materialien freigesetzt werden und irreparable Schäden anrichten könnten.

Auch das Risiko von Unfällen in AKWs haben viele mit einer gewissen Sorge gesehen. Menschliches Versagen beim laufenden Betrieb, technische Defekte und Störungen, Flugzeugabstürze auf AKWs oder auch terroristische Attacken galten als wichtige Risikofaktoren. Technologisch hoch entwickelte Länder wie die Schweiz schienen sich dieses Problems bewusst zu sein und hatten wohl in vielfältiger Weise vorgesorgt, um derartige Risiken klein zu halten. So gingen grosse Teile der Bevölkerung und der Politik hierzulande davon aus, dass sich ein GAU bzw. Super-GAU, wie er vor 25 Jahren in Tschernobyl passierte, hier nicht ereignen könnte, da man hier doch viel sorgfältiger und kompetenter mit der Technologie umginge als damals in der Ukraine. Das Restrisiko der Nukleartechnologie schien klein und angesichts der Vorteile war die Schweizer Bevölkerung bereit, dieses Risiko zu tragen.

Die Tatsache, dass sich nun in einem Hoch-Technologie-Land wie Japan ein Super-GAU ereignete, hat uns alle erheblich verunsichert. Auch wenn sich an den Wahrscheinlichkeiten für nukleare Unfälle in der Schweiz nichts Grundlegendes verändert hat, stellte Fukushima mit einem Mal in Frage, ob die Schweiz Vor- und Nachteile „richtig“ abgewogen hatte.

Sind die Nachteile der Atomenergie nicht doch viel grösser als bisher angenommen, weil die Restrisiken grösser sind als gedacht? Zwar müssen wir die Atomkraftwerke in der Schweiz nicht unbedingt gegen eine Tsunami-Welle von 14 Metern Höhe absichern, aber uns wurde plötzlich bewusst, dass wir vielleicht viel häufigere, viel rigorosere und viel stärker öffentlich kontrollierte Massnahmen bräuchten, um AKW-Risiken klein zu halten.

Und die Vorteile, sind die nicht viel kleiner als angenommen? Als zentrale Vorteile galten vor allem immer die tiefen Kosten des Atomstroms für die Verbraucher und die weitgehende Klimaneutralität. Während die im Betrieb sehr geringen Treibhausgas-Emissionen tatsächlich ein zentraler Pluspunkt von AKWs sind, ist die Behauptung tiefer Kosten von Nuklearstrom schlicht und einfach ein Märchen. Ein Märchen deswegen, weil die so genannten externen Kosten des Atomstroms einfach nicht einbezogen «weg gedacht» wurden. Dabei sind sie massiv und würden, sofern berücksichtigt, den Atomstrom sofort zu einer ökonomisch völlig unrentablen Form der Energieversorgung machen.

Externe Kosten sind dabei alle mit der Atomenergie verbundenen gesellschaftlichen Kosten. Sie umfassen insbesondere die Kosten für die Endlagerung der Abfälle, die Kosten für die Minimierung der AKW-Risiken und die Entschädigungen für Unfälle, GAUs oder Super-GAUs bzw. die Höhe der irreparablen Schäden solcher Unfälle. All diese Kosten haben AKW-Betreiber (und Stromkonsumenten) bisher in ihr ökonomisches Kalkül nicht einbezogen, und zwar vor allem deswegen, weil es nicht nötig war. Die Haftungsregeln in der Schweiz (und in praktisch allen anderen Ländern) sind so, dass – anders als bei anderen Produkten üblich – die Produzenten nicht vollständig haftbar gemacht werden. Gäbe es eine deckende Haftpflicht für einzelne AKWs, würde sich der Strompreis schlagartig deutlich erhöhen. Würde man in diese Versicherung mehrere AKWs einschliessen, stiege der Preis zwar geringer an; wäre aber immer noch erheblich grösser als heute.

Was heisst das nun für die Energiesituation in der Schweiz? Atomstrom scheint viel weniger vorteilhaft zu sein, als man bisher dachte. Es lohnt sich also, über die Bücher zu gehen und zu überlegen, wie man den Vorteil der weitgehenden Klimaneutralität mit weniger grossen Kosten bzw. geringeren Risiken erreichen kann. Insofern sind die Entscheide des Bundesrats vom 25. Mai rational und folgerichtig.

Die Schweiz hat einen eher hohen Energieverbrauch pro Kopf. Selbst wenn es möglich wäre, die Energie- und vor allem die Stromnachfrage durch entsprechende Effizienzsteigerungen zu verringern oder zumindest am weiteren Ansteigen zu hindern, benötigt die Schweiz auch künftig ein hohes Energieangebot. Dies hat mit dem Wachstum von Wirtschaft und Bevölkerung zu tun. Wo soll das Energieangebot aber herkommen, wenn man künftig nicht mehr oder viel weniger auf Atomenergie setzt und wenn CO2-emittierende Formen der Energiegewinnung (etwa das Verbrennen von Kohle oder Erdöl) aus Klimaschutzgründen «No go’s» sind?

Erneuerbare Energien, zum Beispiel aus Sonne, Wind oder Wasser scheinen die Rettung zu sein. Die Frage ist allerdings, ob wir auch bereit sind, die dazu erforderlichen Infrastrukturausbauten zu finanzieren und zu akzeptieren. So müssten künftig vielleicht mehr Solarpanels oder Windräder in der Landschaft stehen, als uns aus ästhetischen Gründen lieb ist. Und wir müssten Netzstrukturen massiv ausbauen, um beispielsweise Solarstrom aus Nordafrika in die Schweiz zu importieren. Diesen Ausbau müssten private Haushalte akzeptieren und ausserdem in Form von höheren Stromrechnungen auch finanzieren.

Die Karten müssen nun auf den Tisch: Wie viel sind die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich bereit, für eine weniger riskante und klimafreundliche Energieversorgung zu zahlen? Die Quadratur des Kreises scheint gefragt: Eine hohe Sicherheit in der täglichen Energieversorgung, tiefe Unfallrisiken, Klimaneutralität und tiefe Strompreise – das alles zusammen geht nicht. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ebenso wie Politikerinnen und Politiker sind gefordert, im Dialog mit der Bevölkerung dasjenige Energieportfolio zu erarbeiten, das den Vorlieben der Schweizerinnen und Schweizer im Hinblick auf die genannten vier Kriterien am besten entspricht. Schwierige, aber auch spannende Diskussionen liegen vor uns.

Zur Autorin

Renate Schubert ist Professorin für Nationalökonomie im Departement für Geistes- und Sozialwissenschaften (D-GESS) und leitet seit Sommer 2006 das Institut für Umweltentscheidungen (IED), das sie mitbegründet hat. Renate Schubert kam 1993 an die ETH Zürich und war zuvor Professorin in Regensburg und Tübingen (1990 bis 1992). Sie war und ist für verschiedene Gremien als Beraterin tätig, darunter so namhafte wie die Eidgenössische Kommission für Konjunkturfragen oder der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderung (WBGU) in Deutschland. Diesem Beirat gehört sie seit dem Jahr 2000 an und präsidierte ihn von 2004 bis 2008. Renate Schuberts Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Entscheidungs- und Risikoforschung, Energie- und Umweltökonomie, Klimapolitik sowie Frauenforschung. Ihr Engagement in Frauenfragen hat ihr an der ETH ein weiteres Amt eingetragen: Seit Dezember 2008 ist sie Delegierte des ETH-Präsidenten für Chancengleichheit. Renate Schubert lebt mit ihrer Familie in Zürich und Fribourg.