Veröffentlicht: 18.05.11
Campus

ETH und IBM eröffnen «stillste» Räume der Welt

Die ETH Zürich und das IBM-Forschungslabor Zürich haben am 17. Mai ein gemeinsames Nanotechnologie-Zentrum in Rüschlikon eröffnet. Es vereint führende Forschungsgruppen aus Hochschule und Industrie an einem Ort und bietet diesen eine weltweit einzigartige Infrastruktur.

Samuel Schlaefli
Am Dienstag wurde das  «Binnig and Rohrer Nanotechnology Center» in Rüschlikon eröffnet; eine einzigartige Kollaboration der ETH Zürich mit IBM im Bereich der Nanowissenschaften. (Bild: IBM)
Am Dienstag wurde das «Binnig and Rohrer Nanotechnology Center» in Rüschlikon eröffnet; eine einzigartige Kollaboration der ETH Zürich mit IBM im Bereich der Nanowissenschaften. (Bild: IBM) (Grossbild)

Auf der Wiese vor den IBM-Forschungslabors in Rüschlikon war am Dienstag Hochbetrieb: Rund 600 geladene Gäste und eine Horde Medienvertreter waren gekommen, um das «Binnig and Rohrer Nanotechnology Center» in Rüschlikon zu eröffnen. Eine laute Angelegenheit, insbesondere als die Bläser der ETH-Big Band im Festzelt richtig loslegen. Derweil ist die Stille wenige Meter davon entfernt nahezu perfekt. In den «Noise-free Labs», dem Herzstück des neuen Zentrums, führen Wissenschaftler bald hochsensitive Versuche im Nanometer-Massstab durch.

Die sechs Speziallabors befinden sich acht Meter unter dem Erdboden; Fenster gibt es keine. Man hat sich bewusst von der Umgebung abgeschottet. Nirgends können Forscher ungestörter arbeiten als hier: Experimente finden auf einem Betonsockel von über 30 Tonnen Gewicht statt, der unter dem Laborboden versteckt und von diesem entkoppelt ist. Er lässt sich ohne viel Kraft verschieben, denn er schwebt auf einem Millimeter-dicken Luftkissen.

Winzige, störende Bodenvibrationen, zum Beispiel von der 150 Meter entfernten Autobahn, werden geschluckt. Die Vibrationen im Labor sind dadurch hundert Mal geringer als in den besten weltweit bestehenden Speziallabors; der Lärmpegel gar 1'000 bis 10'000 Mal geringer. Forscher können während den Experimenten nicht im Raum arbeiten, sie wären selbst die stärkste Quelle von Temperaturschwankungen und Vibrationen. Sie müssen die Apparaturen deshalb von ihren Büros im ersten oder zweiten Stock aus fernsteuern. Obwohl es in «Noise-free Labs» noch keine Experimente zu sehen gibt, erhält man hier einen Eindruck davon, welche enormen Anstrengungen in der für uns greifbaren Welt nötig sind, um in die faszinierende Welt der Nanoteilchen einzudringen.

Zentrum nach IBM-Nobelpreisträgern benannt

Das «Binnig and Rohrer Nanotechnology Center» ist eine bislang nie dagewesene Kooperation zwischen einer Hochschule und der Industrie. IBM investierte 60 Millionen Franken für den Neubau. Die 30 Millionen für die einzigartige Forschungsinfrastruktur teilen sich IBM und ETH Zürich zu gleichen Teilen; ebenso die laufenden Betriebskosten. Nach zwei Jahren Bauzeit wurde das «Binnig and Rohrer Nanotechnology Center» am Dienstag mit Ehrengästen, darunter auch Bundesrat Didier Burkhalter, eröffnet. Der Neubau besticht, abgesehen von den «Noise-free Labs», durch einen 950-Quadratmeter grossen Reinraum, der neben jeweils eigenen Bereichen für ETH- und IBM-Forscher auch einen gemeinsamen Sektor enthält. Forscher in den Nanowissenschaften brauchen solche Räume, um Strukturen und Prozesse in der Grössenordnung von unter 100 Nanometer (ca. 800 mal dünner als ein menschliches Haar) ohne störende Einflüsse aus der Umgebung zu analysieren und zu manipulieren.

Paul Seidler, Koordinator des neuen Zentrums von IBM Research, erklärte, dass die hohe Dichte an exzellenten Hochschulen und Forschern sowie der Fakt, dass rund ein Drittel der zukünftigen Investitionen in Nanotechnologie voraussichtlich in Europa getätigt werden, IBM dazu bewog, das neue Zentrum in Zürich zu realisieren. Hinzu kommt, dass Rüschlikon die Geburtsstätte der Nanotechnologie ist, wie Seidler betonte. Hier präsentierten nämlich Gerd Binnig und der ehemalige ETH-Student Heinrich Rohrer der Welt vor 30 Jahren das erste Rastertunnelmikroskop. Eine bahnbrechende Erfindung, für die sie 1986 mit dem Nobelpreis geehrt wurden.

Durch die Möglichkeit, Nanopartikel mit Rastersondenmikroskopen zu beobachten und diese zu manipulieren, wurde die Türe zu den Nanowissenschaften erst richtig aufgestossen. Entsprechend wurde das neue Zentrum nach den beiden Nobelpreisträgern benannt. Binnig und Rohrer erinnerten sich am Dienstag während eines Podiumgesprächs mit ETH-Präsident Ralph Eichler an die Zeiten ihrer bahnbrechenden Erfindung. Binnig ist heute davon überzeugt, dass die Fortschritte in der Quantenmechanik sowie in der Mikro- und Nanotechnologie die Welt in den letzten Jahrzehnten mehr verändert haben als alles andere. Ohne diese wären die enormen Fortschritte in der Kommunikations- und Informationstechnologie der letzten Jahrzehnte niemals möglich gewesen, so Binnig.

Heute gilt die Nanotechnologie als eine der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts, weil sich auf der Nanometer-Skala viele grundsätzliche Prozesse der Biologie, Chemie und Physik abspielen. Roland Siegwart, Vizepräsident für Forschung und Wirtschaftsbeziehungen der ETH Zürich, ist deshalb überzeugt, dass sie zu praktisch allen aktuellen gesellschaftlichen Fragen wesentliche Beiträge leisten kann. So zum Beispiel bei der effizienteren Nutzung von alternativen Energiequellen oder neuen medizinischen Therapien.

Seit rund 20 Jahren forscht die ETH Zürich im Bereich der Nanowissenschaften. Mit der «Micro- and Nano Science Platform» wurde der Austausch zwischen 40 ETH-Forschungsgruppen mit ähnlichen mikro- und nanotechnischen Fragestellungen institutionalisiert. Im Kompetenzzentrum «Quantum Science and Technology», einer nationalen Forschungsinitiative in den Nanowissenschaften, zu der auch IBM gehört, ist die ETH Zürich federführend.

30 ETH-Forscher in Rüschlikon

Drei Professuren der ETH Zürich richten derzeit ihre neuen Labors am «Binnig and Rohrer Nanotechnology Center» in Rüschlikon ein. Dimos Poulikakos, Professor für Thermodynamik der ETH Zürich und Koordinator der neuen Labors, geht davon aus, dass bis Ende Jahr rund 30 Wissenschaftler der ETH Zürich in Rüschlikon arbeiten werden. Die Forschung der dort ansässigen Gruppen ist vielfältig und eröffnet Perspektiven in unterschiedlichen Anwendungsgebieten.

Das Labor für Nanoelektronik von Professorin Vanessa Wood arbeitet an nanostrukturierten Materialien, mit welchen Solarzellen in Zukunft günstiger produziert werden könnten. In Professor Hyung Gyu Parks Gruppe werden neuartige Filter aus Kohlenstoffnanoröhrchen von zwei Nanometer Durchmesser entwickelt. Mit solchen könnte künftig Trinkwasser einfach aufbereitet sowie Kohlendioxid aus Abgasen abgetrennt werden. An der Professur für Nanotechnologie von Andreas Stemmer werden unter anderem kleinste elektronische Systeme entwickelt. Stemmer freute sich bei der Präsentation seines erst rudimentär eingerichteten Labors am Dienstag sichtlich über die neue Nähe zu den IBM-Kollegen. Die Zusammenarbeit mit IBM-Forschern hat bei ihm eine lange Tradition ­– sowohl in gemeinsamen Forschungsprojekten als auch bei der Betreuung von Studierenden.

ETH-Präsident Ralph Eichler bezeichnete die enge Kollaboration von IBM und ETH Zürich am Dienstag in seiner Rede als Glücksfall, von dem auch die Schweizer Wirtschaft profitieren werde. Die Zusammenarbeit wird sich aber nicht nur auf die beiden Betreiber des Centers beschränken, sondern auch andere interessierte Hochschulen und Industrieunternehmen mit einschliessen. Diese Offenheit für Kollaborationen jeglicher Art macht schliesslich auch für Bundesrat Didier Burkhalter die Schlagkraft des neuen Zentrums aus. Er sei überzeugt, dass die enge Verbindung von Wissenschaft, Wirtschaft und Industrie im Bereich der Nanotechnologie nochmals neue Perspektiven für die Menschheit eröffnen werde, sagte der Bundesrat.

Die Eröffnungszeremonie mit einem Podiumsgespräch von ETH-Präsident Ralph Eichler mit den Nobelpreisträgern  Gerd Binnig und Heinrich Rohrer wurde auf Video aufgezeichnet.