«Schwere Schäden nicht flächendeckend, sondern punktuell»
Beim Geophysiker Florian Haslinger, der derzeit Pikettdienst beim Schweizerischen Erdbebendienst hat, laufen momentan die Telefondrähte heiss. Stündlich wird er mit neuen Fragen zum Erdbeben in Neuseeland konfrontiert. Auch gegenüber ETH Life gibt er Auskunft.

Herr Haslinger, kam
das Erdbeben überraschend?
Florian Haslinger: Ja und Nein. Es handelt sich um ein Nachbeben des
Erdbebens vom vergangenen September mit der Magnitude 7.1. Es ist dafür zwar
relativ stark und spät, und man hätte hoffen können, dass es ausbleibt. Das bestätigen
auch unsere neuseeländischen Kollegen, aber wundern tut es unter den
Seismologen niemanden. Die Nachbebensequenz ist vom Hauptstoss vom September
2010 Richtung Osten weiter gewandert. Es hat dabei auch relativ viele Nachbeben
nahe der Stadt Christchurch gegeben. Die waren jedoch alle deutlich schwächer
als das vom 22. Februar. Das sich noch ein so heftiges Nachbeben ereignet, ist
Pech.
Kann das damit zusammenhängen,
dass die Störungszone zuvor noch gar nicht bekannt war und vielleicht erst
jetzt aktiviert wurde?
Die Störungszone, auf der das Hauptbeben stattfand, hat man tatsächlich
erst durch das September-Beben wahrgenommen. Das neue Beben ereignete sich
innerhalb dieses Störungssystems. Aber dass relativ spät ein so starkes
Nachbeben kommt, hängt damit wohl nicht zusammen. Ob sich ein Erdbeben ereignet
oder nicht, ist ein statistischer Prozess.
Von starken Erdbeben
in Neuseeland hört man vergleichsweise selten. Dies, obwohl das Land auf einer
aktiven Erdbebenzone, der Nahtstelle zwischen der pazifischen und australischen
Platte, liegt. Schaut man sich den Erdbebenkatalog von Neuseeland an, scheint
es jedoch seit 2007 relativ häufig zu stärkeren Beben gekommen zu sein…
…es ist immer etwas gefährlich, solche zeitfokussierten Blicke auf
Erdbebenkataloge zu werfen. Das passiert dauernd und wird auch gerne von Wissenschaftlern
gemacht. Es gibt aber keine statistisch validierbare Gesetzmässigkeit, die das
belegt. Es gibt ein Auf und Ab der Häufigkeiten. Gesamthaft betrachtet muss man
sagen, dass es innerhalb der statistischen Verteilung sehr gut möglich und zu
erwarten ist, dass es Häufungen starker Beben gibt. Dass diese aber mit
irgendwelchen anderen Zyklen in Verbindung stehen oder dass sich eine
Zyklizität davon ableiten liesse, ist nicht belegbar. Natürlich muss man sagen, dass, wenn sich ein starkes, selten
vorkommendes Erdbeben ereignet, auch Nachbeben relativ stark sein können. Die
Statistik mag dadurch etwas verzerrt erscheinen.
Was ist der Grund
dafür, dass dieses Beben so zerstörerisch war?
Hauptgrund ist, dass das Beben in fünf Kilometern Tiefe nur halb so tief
war wie das vom September und der Erdbebenherd direkt unter der Stadt lag. Das
ist eine relativ kritische Tiefe und es macht verdammt viel aus, wenn die
Energie nur noch den halben Radius für die annähernd kugelförmige Ausbreitung
der Erdbebenwellen hat, bevor diese an der Erdoberfläche ankommen. Die Energie,
die dann pro Fläche wirkt, ist sehr viel grösser, da sie sich auf dem kürzeren
Weg weniger verteilt und weniger abgedämpft wird. Man sieht das auch an den
aktuellen Bildern aus Christchurch, die extreme Oberflächeneffekte zeigen: Die
Erdoberfläche und Strassen wurden scheinbar massiv
aufgewölbt. Würde sich ein derartiges Beben mit diesen Auswirkungen in einer
Gegend ereignen, in der nicht erdbebensicher gebaut ist, wäre das eine noch
grössere Katastrophe.
Neuseeland gilt als
weltweit führend im erdbebensicheren Bauen. Wie das aktuelle Beben nun zeigt,
gibt es aber auch Grenzen.
Man kommt irgendwann, auch mit erdbebensicherem Bauen – zumindest
statistisch gesehen – an eine Grenze. Es ist aber immer noch so, dass es auch
auf ganz lokale Gegebenheiten ankommt, mit welchen Amplituden und welcher Frequenz
oder aus welcher Richtung die Erdbebenwellen auf ein Gebäude auftreffen. Es
kann vorkommen, dass eins von zwei völlig gleich nebeneinander gebauten Gebäude
stehen bleibt und das andere nicht. Die durch das Erdbeben generierten Boden-Beschleunigungswerte
in der Stadt waren bis mehr als doppelt so hoch wie die Erdbeschleunigung. Wenn
derart extreme Beschleunigungen dann noch in der richtigen Frequenz kommen,
können selbst relativ erdbebensichere Gebäude schwere Schäden davontragen.
Können auch die
bereits vorhandenen Schäden vom September dazu beigetragen haben, dass die
Schäden nun so gross sind?
Darüber wird nun spekuliert, belegt ist es aber noch nicht. Das müssen
Untersuchungen zeigen. Es ist allerdings gut vorstellbar, dass sich vorhandene
Schäden negativ ausgewirkt haben.
Waren die Gebäude denn schon renoviert?
Teilweise wurden die beschädigten Gebäude wohl vorerst mit Holzkonstruktionen
abgestützt. Wie weit man mit der Renovation vorangeschritten ist, kann ich
nicht sagen. Erfährt ein Gebäude mit Holzabstützung ein Beben, braucht man sich
natürlich nicht zu wundern, wenn das Gebäude nicht standhält.
Das heisst, beschädigte
und provisorisch abgestützte Gebäude waren vermutlich noch bewohnt. Müsste man
das in Zukunft nicht überdenken und derartige Gebäude räumen?
Das wäre zu überlegen. Im Bauingenieurwesen gibt es aktuell eine aktive
Disziplin, in der Wissenschaftler versuchen zu verstehen, wie sich Schwächungen
der Gebäudestruktur durch Erdbeben auf ein Bauwerk auswirken. Das ist noch
nicht vollkommen verstanden. Es wäre beispielsweise auch für die Schweiz
wichtig zu wissen, wie man mit derartigen Schäden umgeht, wenn noch weitere Erdbeben
zu erwarten sind.
Wie schätzen sie die aktuelle
Situation in Christchurch ein?
Die Bilder von Christchurch geben momentan noch ein relativ
unübersichtliches Bild. Es sieht aber so aus, dass die Bevölkerung wahrscheinlich
nicht so viel Glück wie beim Siebener Beben hatte. Das gestrige Beben kam zur
falschen Tageszeit, als viele Leute unterwegs und in ihren Büros waren. Leute
auf der Strasse kamen durch herabstürzende Teile ums Leben und wenn ein grosses
Bürogebäude beschädigt wird, hat man viele Opfer zu beklagen. Wenn ich aber im
Internet schaue, wo in Christchurch etwas kaputt ist und was funktioniert, dann
kann ich nur noch einmal betonen, dass sich hier trotz der hohen Opferzahl zeigt,
wie wichtig erdbebensicheres Bauen ist. Im Vergleich zu Haiti sind in
Christchurch die schweren Schäden nicht flächendeckend, sondern punktuell. Ich
wäre froh, wenn ich sicher sein könnte, dass bei einem vergleichbaren Beben in
der Schweiz genauso wenig passieren würde.
Das heisst, dass es in
Christchurch mit nahezu 360'000 Einwohnern viel mehr Tote gegeben hätte, wäre man
in Neuseeland nicht so erfahren im erbebensicherem Bauen. Wie würde es in der
Schweiz nach so einem Beben aussehen?
Das Beben ist etwas stärker, als man es im Wallis erwarten würde und
etwas schwächer als eines, das sich in Basel ereignen könnte. Ich befürchte,
dass die Situation in Basel anders aussehen würde. Wenn ein Erdbeben der
Magnitude 6.3 in fünf Kilometern Tiefe unter einer Stadt stattfinden würde, die
nicht wie Christchurch gebaut ist, hätten wir wohl mindestens um einen Faktor
Zehn mehr Todesopfer zu beklagen.
Wie sehen die
Prognosen für die Südinsel Neuseelands aus, müssen wir mit weiteren Nachbeben
rechnen?
Es wird sicherlich noch eine ganze Serie von Nachbeben geben, die
fühlbar sind. Das ist normal und wird noch Wochen so weitergehen. Dieses
relativ starke Nachbeben hat der Nachbeben-Sequenz noch einmal einen Push
gegeben.
Erdbeben in Neuseeland
Die Südinsel Neuseelands wurde innerhalb von einem halben Jahr nun das zweite Mal von einem schweren Erdbeben heimgesucht. Bereits nach dem Hauptbeben der Magnitude 7.1 im September liessen Fachleute verlauten, dass nur das grosse Know-how Neuseelands im Bereich erdbebensicheres Bauen Schlimmeres verhindert hat. Damals gab es nur zwei Schwerverletzte. Wie wichtig das erdbebensichere Bauen ist, zeigt sich nun einmal mehr bei diesem Beben, das mit der Magnitude 6.3 zwar schwächer war, aber die Tatsache, dass der Erdbebenherd sehr viel näher an der Oberfläche und der Stadt lag, machte es vermutlich noch zerstörerischer. Über 300 Vermisste, 75 Todesopfer und viele Verletzte sind zu beklagen.
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