Veröffentlicht: 23.02.11
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«Schwere Schäden nicht flächendeckend, sondern punktuell»

Beim Geophysiker Florian Haslinger, der derzeit Pikettdienst beim Schweizerischen Erdbebendienst hat, laufen momentan die Telefondrähte heiss. Stündlich wird er mit neuen Fragen zum Erdbeben in Neuseeland konfrontiert. Auch gegenüber ETH Life gibt er Auskunft.

Simone Ulmer
Die vom Erdbeben teilweise zerstörte Christchurch Kathedrale im neuseeländischen Christchurch, umgeben von intakten Bauten. (Bild: Keystone)
Die vom Erdbeben teilweise zerstörte Christchurch Kathedrale im neuseeländischen Christchurch, umgeben von intakten Bauten. (Bild: Keystone) (Grossbild)

Herr Haslinger, kam das Erdbeben überraschend?
Florian Haslinger: Ja und Nein. Es handelt sich um ein Nachbeben des Erdbebens vom vergangenen September mit der Magnitude 7.1. Es ist dafür zwar relativ stark und spät, und man hätte hoffen können, dass es ausbleibt. Das bestätigen auch unsere neuseeländischen Kollegen, aber wundern tut es unter den Seismologen niemanden. Die Nachbebensequenz ist vom Hauptstoss vom September 2010 Richtung Osten weiter gewandert. Es hat dabei auch relativ viele Nachbeben nahe der Stadt Christchurch gegeben. Die waren jedoch alle deutlich schwächer als das vom 22. Februar. Das sich noch ein so heftiges Nachbeben ereignet, ist Pech.

Kann das damit zusammenhängen, dass die Störungszone zuvor noch gar nicht bekannt war und vielleicht erst jetzt aktiviert wurde?
Die Störungszone, auf der das Hauptbeben stattfand, hat man tatsächlich erst durch das September-Beben wahrgenommen. Das neue Beben ereignete sich innerhalb dieses Störungssystems. Aber dass relativ spät ein so starkes Nachbeben kommt, hängt damit wohl nicht zusammen. Ob sich ein Erdbeben ereignet oder nicht, ist ein statistischer Prozess.

Von starken Erdbeben in Neuseeland hört man vergleichsweise selten. Dies, obwohl das Land auf einer aktiven Erdbebenzone, der Nahtstelle zwischen der pazifischen und australischen Platte, liegt. Schaut man sich den Erdbebenkatalog von Neuseeland an, scheint es jedoch seit 2007 relativ häufig zu stärkeren Beben gekommen zu sein…
…es ist immer etwas gefährlich, solche zeitfokussierten Blicke auf Erdbebenkataloge zu werfen. Das passiert dauernd und wird auch gerne von Wissenschaftlern gemacht. Es gibt aber keine statistisch validierbare Gesetzmässigkeit, die das belegt. Es gibt ein Auf und Ab der Häufigkeiten. Gesamthaft betrachtet muss man sagen, dass es innerhalb der statistischen Verteilung sehr gut möglich und zu erwarten ist, dass es Häufungen starker Beben gibt. Dass diese aber mit irgendwelchen anderen Zyklen in Verbindung stehen oder dass sich eine Zyklizität davon ableiten liesse, ist nicht belegbar. Natürlich muss man sagen, dass, wenn sich ein starkes, selten vorkommendes Erdbeben ereignet, auch Nachbeben relativ stark sein können. Die Statistik mag dadurch etwas verzerrt erscheinen.

Was ist der Grund dafür, dass dieses Beben so zerstörerisch war?
Hauptgrund ist, dass das Beben in fünf Kilometern Tiefe nur halb so tief war wie das vom September und der Erdbebenherd direkt unter der Stadt lag. Das ist eine relativ kritische Tiefe und es macht verdammt viel aus, wenn die Energie nur noch den halben Radius für die annähernd kugelförmige Ausbreitung der Erdbebenwellen hat, bevor diese an der Erdoberfläche ankommen. Die Energie, die dann pro Fläche wirkt, ist sehr viel grösser, da sie sich auf dem kürzeren Weg weniger verteilt und weniger abgedämpft wird. Man sieht das auch an den aktuellen Bildern aus Christchurch, die extreme Oberflächeneffekte zeigen: Die Erdoberfläche und Strassen wurden scheinbar massiv aufgewölbt. Würde sich ein derartiges Beben mit diesen Auswirkungen in einer Gegend ereignen, in der nicht erdbebensicher gebaut ist, wäre das eine noch grössere Katastrophe.

Neuseeland gilt als weltweit führend im erdbebensicheren Bauen. Wie das aktuelle Beben nun zeigt, gibt es aber auch Grenzen.
Man kommt irgendwann, auch mit erdbebensicherem Bauen – zumindest statistisch gesehen – an eine Grenze. Es ist aber immer noch so, dass es auch auf ganz lokale Gegebenheiten ankommt, mit welchen Amplituden und welcher Frequenz oder aus welcher Richtung die Erdbebenwellen auf ein Gebäude auftreffen. Es kann vorkommen, dass eins von zwei völlig gleich nebeneinander gebauten Gebäude stehen bleibt und das andere nicht. Die durch das Erdbeben generierten Boden-Beschleunigungswerte in der Stadt waren bis mehr als doppelt so hoch wie die Erdbeschleunigung. Wenn derart extreme Beschleunigungen dann noch in der richtigen Frequenz kommen, können selbst relativ erdbebensichere Gebäude schwere Schäden davontragen.

Können auch die bereits vorhandenen Schäden vom September dazu beigetragen haben, dass die Schäden nun so gross sind?
Darüber wird nun spekuliert, belegt ist es aber noch nicht. Das müssen Untersuchungen zeigen. Es ist allerdings gut vorstellbar, dass sich vorhandene Schäden negativ ausgewirkt haben.

Waren die Gebäude denn schon renoviert?
Teilweise wurden die beschädigten Gebäude wohl vorerst mit Holzkonstruktionen abgestützt. Wie weit man mit der Renovation vorangeschritten ist, kann ich nicht sagen. Erfährt ein Gebäude mit Holzabstützung ein Beben, braucht man sich natürlich nicht zu wundern, wenn das Gebäude nicht standhält.

Das heisst, beschädigte und provisorisch abgestützte Gebäude waren vermutlich noch bewohnt. Müsste man das in Zukunft nicht überdenken und derartige Gebäude räumen?
Das wäre zu überlegen. Im Bauingenieurwesen gibt es aktuell eine aktive Disziplin, in der Wissenschaftler versuchen zu verstehen, wie sich Schwächungen der Gebäudestruktur durch Erdbeben auf ein Bauwerk auswirken. Das ist noch nicht vollkommen verstanden. Es wäre beispielsweise auch für die Schweiz wichtig zu wissen, wie man mit derartigen Schäden umgeht, wenn noch weitere Erdbeben zu erwarten sind.

Wie schätzen sie die aktuelle Situation in Christchurch ein?
Die Bilder von Christchurch geben momentan noch ein relativ unübersichtliches Bild. Es sieht aber so aus, dass die Bevölkerung wahrscheinlich nicht so viel Glück wie beim Siebener Beben hatte. Das gestrige Beben kam zur falschen Tageszeit, als viele Leute unterwegs und in ihren Büros waren. Leute auf der Strasse kamen durch herabstürzende Teile ums Leben und wenn ein grosses Bürogebäude beschädigt wird, hat man viele Opfer zu beklagen. Wenn ich aber im Internet schaue, wo in Christchurch etwas kaputt ist und was funktioniert, dann kann ich nur noch einmal betonen, dass sich hier trotz der hohen Opferzahl zeigt, wie wichtig erdbebensicheres Bauen ist. Im Vergleich zu Haiti sind in Christchurch die schweren Schäden nicht flächendeckend, sondern punktuell. Ich wäre froh, wenn ich sicher sein könnte, dass bei einem vergleichbaren Beben in der Schweiz genauso wenig passieren würde.

Das heisst, dass es in Christchurch mit nahezu 360'000 Einwohnern viel mehr Tote gegeben hätte, wäre man in Neuseeland nicht so erfahren im erbebensicherem Bauen. Wie würde es in der Schweiz nach so einem Beben aussehen?
Das Beben ist etwas stärker, als man es im Wallis erwarten würde und etwas schwächer als eines, das sich in Basel ereignen könnte. Ich befürchte, dass die Situation in Basel anders aussehen würde. Wenn ein Erdbeben der Magnitude 6.3 in fünf Kilometern Tiefe unter einer Stadt stattfinden würde, die nicht wie Christchurch gebaut ist, hätten wir wohl mindestens um einen Faktor Zehn mehr Todesopfer zu beklagen.

Wie sehen die Prognosen für die Südinsel Neuseelands aus, müssen wir mit weiteren Nachbeben rechnen?
Es wird sicherlich noch eine ganze Serie von Nachbeben geben, die fühlbar sind. Das ist normal und wird noch Wochen so weitergehen. Dieses relativ starke Nachbeben hat der Nachbeben-Sequenz noch einmal einen Push gegeben.

Erdbeben in Neuseeland

Die Südinsel Neuseelands wurde innerhalb von einem halben Jahr nun das zweite Mal von einem schweren Erdbeben heimgesucht. Bereits nach dem Hauptbeben der Magnitude 7.1 im September liessen Fachleute verlauten, dass nur das grosse Know-how Neuseelands im Bereich erdbebensicheres Bauen Schlimmeres verhindert hat. Damals gab es nur zwei Schwerverletzte. Wie wichtig das erdbebensichere Bauen ist, zeigt sich nun einmal mehr bei diesem Beben, das mit der Magnitude 6.3 zwar schwächer war, aber die Tatsache, dass der Erdbebenherd sehr viel näher an der Oberfläche und der Stadt lag, machte es vermutlich noch zerstörerischer. Über 300 Vermisste, 75 Todesopfer und viele Verletzte sind zu beklagen.