Veröffentlicht: 25.08.10
Kolumne

Von Kunst und Wissenschaft

Michael Hagner
Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung (Bild: zVg M. Hagner)
Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung (Bild: zVg M. Hagner) (Grossbild)

Seit einigen Jahren scheint es ein neues Lieblingsthema zu geben – die Verbindung von Wissenschaft und Kunst. Darunter sind unterschiedliche Phänomene zusammengefasst: Künstlerinnen und Künstler arbeiten für kurze oder längere Zeit in wissenschaftlichen Labors mit; idealerweise kommt es dabei zu Interaktionen, die letztlich eine Synthese aus Wissenschaft und Kunst herbeiführen. An den Kunsthochschulen geistert der neue Begriff der künstlerischen Forschung herum, was im Wesentlichen zur Folge gehabt hat, dass sich nun eine Reihe von Menschen den Kopf darüber zerbrechen, wie eine Forschung überhaupt aussehen müsste, damit Künstler etwas Sinnvolles dazu beitragen können. Nur so viel ist gewiss, dass es der aus Natur- und Geisteswissenschaften bekannte und bewährte Begriff der Forschung nicht sein kann. Wer weiss, vielleicht kann bald auch mit Video-Installation, Design-Mappen oder einer Fotoserie an Kunstuniversitäten promoviert werden. Spätestens dann wird natürlich die Frage auftauchen, ob Chemiker oder Nanotechnologen, die ihre Ergebnisse in besonders schöne Bilder ummünzen, sich auch Künstler nennen und diese Bilder auf dem Kunstmarkt anpreisen dürfen.

Lassen wir die Zukunftsversprechungen und Hoffnungen einmal beiseite und wenden uns der Gegenwart zu. Was können Grenzüberschreitungen zwischen Wissenschaft und Kunst bedeuten? Wo liegt der besondere Pfiff, wenn Künstler sich intensiv auf eine Wissenschaft einlassen? Einige Zeitgenossen scheinen der Überzeugung zu sein, dass wissenschaftliche Arbeit sich dadurch besser vermitteln ließe. Natürlich kann man Einsteins Relativitätstheorie im Comic oder in animierten Computerbildern anschaulich machen, und das ist ja auch mit einem gewissen Erfolg getan worden. Vielleicht wird das hier und da sogar als Kunst bezeichnet – das schadet ja nicht –, aber mit Sicherheit wird die Relativitätstheorie dadurch nicht verständlich, sie wird höchstens in einigen ihrer Aspekte etwas weniger befremdlich. Ob also die Funktionsweise des Gehirns verständlicher wird, wenn Künstler ins Neuroimaging-Labor gehen und den Hirnforschern über die Schulter sehen, wage ich zu bezweifeln. Aber das spricht nicht notwendigerweise gegen Künstler im Labor: Vielleicht können sie an der science in action etwas zeigen, was vorher noch nicht gesehen wurde, weil es nicht zur Episteme gehört. Das wäre dann keine Synthese aus Wissenschaft und Kunst, sondern würde seinen Witz gerade aus der Differenz beziehen.

Man sollte sich keinen Illusionen darüber hingeben, dass Wissenschaft und Kunst ganz unterschiedlichen Regeln folgen und entsprechend unterschiedliche Ziele haben. Wissenschaft unterliegt der epistemischen Verpflichtung, Wissen zu generieren, dessen Zustandekommen im Prinzip Schritt für Schritt nachverfolgbar sein muss. Der französische Soziologe Bruno Latour hat dafür den Begriff «immutable mobiles» geprägt, worunter er materielle Repräsentationen versteht, die die Stabilität und Kohärenz des Wissens an unterschiedlichen Orten garantieren. Triviales Beispiel: Dass am Nordpol die Eisberge schmelzen, muss im Kongo genauso als zuverlässiges Wissen gelten wie in Grönland. Weniger triviales Beispiel: Dass der Klimawandel menschengemacht ist, muss für konservative chinesische oder amerikanische Politiker genauso als zuverlässiges Wissen gelten wie für die meisten Klimatologen und Ökologen. Daraus folgt zumindest, dass man wissenschaftliche Erkenntnis nicht mit einem Bild, mit einem Blick, in einem Moment haben kann. Wissenschaftler mögen bisweilen ein Heureka-Erlebnis haben, aber damit ist eine wissenschaftliche Wahrheit noch längst nicht etabliert.

Anders die Kunst. Sie arbeitet oft mit dem unmittelbaren Eindruck, und der kann sowohl auf Befremdung und Distanz als auch auf Überwältigung hinauslaufen. Vor kurzem habe ich die wunderbare Ausstellung «FischGrätenMelkStand» von John Bock in der temporären Kunsthalle in Berlin gesehen. Die begehbare, besser: erkletterbare Installation, eine Art schmuddelige Kunst- und Wunderkammer, war ein sinnliches Fest. Unzählige Reize in vielleicht 30 Minuten, verspielte Korrespondenzen und Assoziationen, man konnte sich einfach verführen lassen. Herrlich. Aber habe ich dadurch in ähnlicher Weise ein tieferes Verständnis der Welt erlangt, wie wenn ich mich durch etliche wissenschaftliche Untersuchungen zum Klimawandel arbeite? Nein, doch sind einige meiner Sichtweisen durchgeschüttelt worden und ich habe einen etwas anderen Blick auf manche Dinge. Will sagen: Die Kunst hat keine epistemischen Verpflichtungen und dies ist ihr grosses Privileg.

Die Gesellschaft investiert Kapital in Universitäten und Forschungsinstitute, damit Erkenntnis- und Wissensgewinn sowie das Streben nach Wahrheit gelehrt und durch Forschung eingelöst werden. Diese Verpflichtung hat die Kunst nicht und das ist auch gut so, denn sonst wäre es keine Kunst. Das heisst nicht, dass Kunst nicht intellektuell sein kann oder mit Gegenständen der Wissenschaft umgeht, aber dies funktioniert nach den Spielregeln der Kunst, nicht der Episteme und im Regelfall auch nicht der Techne.

Fragt man umgekehrt, was Wissenschaftler an der Kunst interessieren könnte, so glaube ich nicht, dass sie die Hoffnung haben, Künstler könnten ihnen bei ihren wissenschaftlichen Fragestellungen helfen. Eher schon dürfte es um die bereits erwähnte Vermittlung des Wissens in der Öffentlichkeit gehen. PUSH (Public Understanding of Science and Humanities), Wissenschaftliche Museen, Blogs, Websites, Fernsehserien – all das sind Initiativen in dieser Richtung. Warum nicht auch die Kunst? Immerhin handelt es sich um ein medial sehr präsentes System, von dem die Wissenschaft vielleicht profitieren könnte. Also ein instrumentelles Verhältnis. Darin liegt jedoch ein Problem: Lässt sich die Kunst unter der Bedingung auf eine Zusammenarbeit ein, dass sie ein brauchbares Vehikel zum angenehmeren Transport von Forschungsergebnissen ist, macht sie sich zum Erfüllungsgehilfen wissenschaftlicher Bedürfnisse – eine eher trostlose Perspektive. Wie man es auch dreht und wendet: Kunst und Wissenschaft sind zwei hochkomplexe Kulturtechniken, die beide davon profitieren, wenn sie sich in neugieriger Distanz zueinander bewegen und es bisweilen auch verstehen, sich gegenseitig zu ignorieren.

Zum Autor

Michael Hagner ist seit 2003 Professor für Wissenschaftsforschung am Departement für Geistes- und Sozialwissenschaften (D-GESS). Von 1980 bis 1986 studierte er an der Freien Universität Berlin Medizin und Philosophie. 1987 erfolgte die Promotion zum Dr. med. Nach seinem Postdoc am Neurophysiologischen Institut der Freien Universität schlug er einen für Mediziner eher ungewöhnlichen Forschungsweg ein und befasste sich mehr und mehr mit Medizin- und Wissenschaftsgeschichte. In diesem Gebiet habilitierte er sich 1994 an der Georg-August Universität Göttingen, bevor er für acht Jahre am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte arbeitete. Für seine Forschungen, insbesondere zur Geschichte der Neurowissenschaften, wurde er mehrfach geehrt: Er war Fellow unter anderem am Collegium Helveticum der ETH Zürich, am Zentrum für Literatur und Kulturforschung in Berlin und an der Maison des Sciences de l'homme in Paris. 2008 erhielt er den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, deren Mitglied er seit 2009 ist.