Veröffentlicht: 24.06.10
Campus

Die Langstrasse als Forschungslabor

Architekturstudenten der ETH Zürich fühlten der Langstrasse, einer Lebensader Zürichs, während vier Monaten den Puls. Dabei ist ein vielschichtiges Porträt eines umstrittenen Quartiers entstanden. Die Ausstellung ist noch bis Mitte Juli im Architekturforum Zürich zu sehen.

Samuel Schlaefli
Tim Rieniets vor Fundstücken aus dem Langstrassenquartier, die Studierende der ETH für die Ausstellung «Langstrasse verlängern!» zusammengetragen haben.  (Bild: Samuel Schlaefli / ETH Zürich)
Tim Rieniets vor Fundstücken aus dem Langstrassenquartier, die Studierende der ETH für die Ausstellung «Langstrasse verlängern!» zusammengetragen haben. (Bild: Samuel Schlaefli / ETH Zürich) (Grossbild)

Was St. Pauli für Hamburg ist, ist die Langstrasse für Zürich. Für viele ist das Quartier untrennbar mit Prostitution, Drogenhandel, Verbrechen und Abfall verbunden. Und doch hat es eine enorme Anziehung: Für Nachtschwärmer, die hier hippe Klubs und Bars finden; für Studenten, die sich den letzten bezahlbaren Wohnraum in Zürichs Zentrum streitig machen oder für Künstler, Grafiker und Kreative jeder Couleur, die hier Inspiration für ihr Schaffen finden.

Für Tim Rieniets, Oberassistent an der Professur Christiaanse der ETH Zürich, ist die Langstrasse schlicht einer der urbansten Orte Zürichs. Nicht in erster Linie wegen der räumlichen Dichte, sondern wegen der Erlebnisdichte. Rieniets kuratierte auf Anfrage des Architekturforums Zürich die aktuelle Ausstellung «Langstrasse verlängern!». Er hat Erfahrung als Kurator: Letztes Jahr kuratierte er gemeinsam mit Kees Christiaanse die Internationale Architekturbiennale in Rotterdam. Für «Langstrasse verlängern!» untersuchten drei Teams von Architekten, Soziologen und Städteplanern auf Rieniets Einladung hin, inwiefern die urbanen Qualitäten des Langstrassenquartiers auch auf andere Gebiete übertragen werden können. Der weitaus grösste, vierte Beitrag zur Ausstellung kommt aus dem «Urban Research Studio» der ETH Zürich (siehe Kasten), das Rieniets leitet.

Kleinräumige Eigentümerstruktur als Segen

Im diesjährigen Semesterprojekt des «Urban Research Studio» wurde das Langstrassenquartiers und deren Bewohner erforscht. «Ich wollte gemeinsam mit neun Studenten die Besonderheiten dieses Quartiers dokumentieren und seine städtebaulichen Eigenschaften entschlüsseln», erklärt Rieniets. Nach einer Einführung zu Methoden der Stadtforschung, wählte sich jeder und jede Studierende ein Thema, formulierte eine Forschungsfrage und wählte dazu eine sinnvolle Methodik. Um so viel wie möglich vom Leben vor Ort aufzusaugen, verlegten die Studierenden ihren Arbeitsplatz vorübergehend vom Hönggerberg in ein Abbruchhaus an der Feldstrasse, im Herzen des Forschungsobjekts. Herausgekommen ist ein buntes Porträt des Langstrassenquartiers. Reich illustriert mit Fundgegenständen, die die Studierenden während ihrer Streifzüge durchs Quartier gesammtelt haben. Und dokumentiert mit eigenen Studien und Erkenntnissen.

Flavia Conrad mutmasst zum Beispiel, dass die kleinteilige Eigentümerstruktur ein Segen für das Quartier ist. Wo 57 Prozent der Bausubstanz Privaten gehört und über viele kleine Parzellen verteilt ist, sind grössere Überbauungsprojekte nur schwer umzusetzen. Die Daten dazu hat sie vom Amt für Statistik. Die Darstellung der Besitzverhältnisse auf einer Karte ist jedoch neu und lässt tief in die Struktur des Viertels blicken. An anderer Stelle hat sich Lisa Grübel mit dem Rhythmus der Langstrassen-Bewohner auseinandergesetzt. In Zeitdiagrammen zeigt sie, wer wann zu welchem Zweck im Quartier unterwegs ist. Aus ihrem «Stundenplan» lassen sich auch problematische Überschneidungen herauslesen; zum Beispiel wenn das Sexgewerbe am frühen Morgen langsam zum Erliegen kommt, während die ersten Kinder bereits auf dem Weg zur Schule sind.

Die meisten Arbeiten beruhen auf Gesprächen mit Bewohnern, Literatur- und Medienrecherchen oder der Auswertung von Planungsdaten. Doch auch unkonventionelle Methoden kamen zum Einsatz. Philomena Lenz hat in ihrem Beitrag zu «transnationalen Räumen» einen Altpapierbündel aus dem Quartier genauer unter die Lupe genommen und entdeckt darüber die Vielfalt der Nationalitäten im Quartier. «Natürlich sind solche Methoden für repräsentative Aussagen nicht geeignet», ist sich Rieniets bewusst. Eigene Herangehensweisen sind ihm aber auch wichtiger als eindeutige Ergebnisse. Die Studierenden sollen selber Wege finden, um sich die Eigenheiten des untersuchten Ortes in kurzer Zeit anzueignen und zu dokumentieren.

Fundstücke zwischen Tragik und Komik

Die ausgestellten Fundstücke lassen oft ebenso tief in das untersuchte Quartier blicken wie die thematischen Textbeiträge selber: Aus alten Kunststoffschalen und einigen Holzbrettern gezimmerte Stühle erzählen von zwischengenutzten Räumen und der Kreativität ihrer Nutzer. Ein getrockneter Blumenstraus von einem blühenden Entspannungs-Irrgarten inmitten von Kneipen und Sexshops. Der Hunderterbeutel Kondome, den es in der Apotheke an der Ecke zu kaufen gibt, von einem allgegenwärtigen aber oft tabuisierten Gewerbe. Dutzende Speisekarten von Küchen aus aller Welt. Spritzen und angebrannte Folienreste von Junkies in Hauseingängen und Hinterhöfen. Ein altes Handy wiederum macht auf das Schicksal von jungen Prostituierten aus dem Osten aufmerksam, die hergeschafft werden ohne dass sie ein Wort Deutsch verstehen und sich über ihr Handy feilbieten, in das ein Zuhälter Angebot und Preis eingetippt hat.

Anzeichen für die zunehmende Gentrifizierung des Quartiers, die Rieniets und viele andere befürchten, finden sich in den meisten Arbeiten. Eine Auflistung der Restaurants mit ihren Gründungsdaten zeigt zum Beispiel, dass in den vergangenen beiden Jahren so viel neue Restaurants im Langstrassenquartier eröffnet wurden wie nie zuvor – ein Indiz, dass das Quartier auch für neue Lebensstile attraktiv wird. Ebenso bei den Geschäften: Während ein bestimmter Kern an lokalen Boutiquen und Geschäften wichtige Impulsgeber und bewährte Treffpunkte sind und somit Mehrwert für das gesamte Quartier schaffen, kommen zunehmend internationale «Flagship stores» hinzu, die keinen lokalen Bezug mehr haben.

Das Porträt der ETH-Studenten ist eine aufschlussreiche Annäherung an ein Quartier, das zwischen schöpferischem Chaos und abstossender Rohheit oszilliert. Und eine Momentaufnahme, die zeigt, dass die Langstrasse einem schleichenden Wandel unterworfen ist, der die urbane Qualität dieses Raums zu untergraben droht. Im Programm schlägt Tim Rieniets deshalb provokativ vor: «Soll doch der Rest der Stadt so werden wie das Langstrassenquartier - ein bisschen bunter, offener und bescheidener. Und nicht umgekehrt!»

«Langstrasse verlängern!» ist eine Kooperation des Architekturforums Zürich und der Professur Kees Christiaanse, ETH Zürich. Die Ausstellung kann noch bis am 17.07.2010 im Architekturforum Zürich an der Brauerstrasse 16 besichtigt werden.
Öffnungszeiten: Dienstag, Mittwoch, Freitag 12:00 – 18:00 Uhr / Donnerstag 16:00 – 22:00 Uhr / Samstag 11:00 – 17:00 Uhr.

«Urban Research Studio»

Das Urban Research Studio ist ein Lehrprojekt der Professur Kees Christiaanse und wird von FILEP (Fonds für innovative Lehrprojekte an der ETH Zürich) gefördert. Das Studio basiert auf der Idee des forschenden Lernens: Studierende eignen sich Wissen über komplexe urbane Zusammenhänge an, indem sie eigene kleine Forschungsprojekte im städtischen Raum durchführen. Das Semesterprojekt zur Ausstellung «Langstrasse verlängern!» dokumentiert auf anschauliche Art die Arbeit des Urban Research Studios, und wie sich Lehre, Forschung und persönliches Engagement verbinden lassen.