Veröffentlicht: 05.05.10
Kolumne

Vom Zusperren

Michael Hagner
Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung. (Bild: zVg M. Hagner)
Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung. (Bild: zVg M. Hagner) (Grossbild)

Es gibt Institute, die für die eigene wissenschaftliche Entwicklung von grosser Bedeutung sind, auch wenn man gar nicht so lange Zeit an ihnen verbracht hat. Ein solches Institut war für mich das Wellcome Institute for the History of Medicine in London, an dem ich im Herbst 1989 einige Monate als Gastforscher verbrachte. Damals war das Institut im ehrwürdigen, durchaus altertümlich wirkenden, Wellcome-Gebäude in der Euston Road untergebracht. Altertümlich wirkten auf mich jedoch höchstens der Teeraum, in dem man sich nach dem Mittagessen versammelte, und die Ausleihpraxis in der unfassbar reichhaltigen Bibliothek, wegen der allein bereits sich der Besuch in London lohnte. Alles andere als altertümlich war die Atmosphäre im Institut. Die Medizingeschichte war seit den siebziger Jahren enorm expandiert, es gab brennend wichtige Forschungsthemen von der Geschichte des Patienten und der Medizin im Nationalsozialismus bis hin zur Geschichte der Neurowissenschaften und der Life Sciences, von denen sich bereits erahnen liess, dass sie im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung gewinnen würden.

Institutsdirektor war der umtriebige William F. Bynum, der um 1970 einige Zeit bei Erwin Ackerknecht am Zürcher Medizinhistorischen Institut verbracht hatte. Noch heute würde ich sagen, dass das Wellcome Institute damals – 22 Jahre nach seiner Gründung im Jahre 1967 – unangefochten das weltweit bedeutendste Institut im Bereich Geschichte der Humanwissenschaften darstellte. Das lag an der Bibliothek, an den dort arbeitenden Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Gästen und vor allem an dem legendären Historiker Roy Porter, der aussah wie der Tourmanager der Rolling Stones und auf verschiedensten medizin- und wissenschaftshistorischen Gebieten eine Produktivität entfaltete, die kaum anders als mirakulös zu bezeichnen ist.

Ich war überwältigt. Es war das erste Mal in meinem akademischen Leben, dass ich so etwas wie Globalität der Wissenschaft in Echtzeit miterlebte. Es gab Doktorierende und Postdocs aus allen möglichen Ländern, die zu historischen Themen aller Epochen und Kulturen forschten. Das nannte sich Medizingeschichte, aber es umfasste Körpergeschichte und Ethnologie, Kunstgeschichte und Philosophie. Dort hörte ich zum ersten Mal Vorträge über indische Medizin, liess mich über arabische Naturforscher und Ärzte des Mittelalters und die Architektur von Krankenhausbauten aufklären, diskutierte über die sexualpathologischen Ideen des Wiener Psychiaters Richard von Krafft-Ebing, war skeptisch gegenüber einer Art Zeitgeschichte, die sich vor allem aus den Erinnerungen pensionierter Ärzte und Biowissenschaftler speiste und fand noch genügend Zeit, mein eigenes neues Forschungsprojekt zu skizzieren und meinen ersten wissenschaftlichen Artikel auf Englisch zu schreiben.

Wenn so Medizin- und Wissenschaftsgeschichte aussieht, dachte ich, dann kann ich mir auch vorstellen, da mitzumischen. Dieses Gefühl hatte ich zuvor in Deutschland nie gehabt, und deswegen wird das damalige Wellcome Institute mit seinen wunderbaren Wissenschaftlern für mich stets der Ort bleiben, an dem ich endlich den Mut fand, den Schritt von der Medizin in die Wissenschaftsgeschichte zu wagen.

Und jetzt – soll das Institut geschlossen werden. Wie kann es sein, dass ein so grosses, weltweit bekanntes und renommiertes Zentrum, in dem zwölf Akademiker, zahlreiche Gastwissenschaftler und 25 Doktorierende arbeiten, vor dem Aus steht? Waren die akademischen Leistungen so schlecht, dass man sich schämen musste? Hat eine Evaluation stattgefunden, die dem Zentrum eine schlechte Leistung ausstellte? Nichts davon. Sicher, der Ort war nicht mehr ganz so pulsierend wie vor 20 Jahren, aber für grossartige Wissenschaftler, die irgendwann emeritiert werden, findet sich nicht immer gleichwertiger Ersatz. Und wenn die Verantwortlichen mit der Forschungsausrichtung nicht mehr ganz einverstanden gewesen sein sollten, dann hätte einer thematischen Neuausrichtung nichts im Wege gestanden. Aber auch davon hat man nie etwas gehört.

Keine Institution hat ein automatisches Recht auf ewige Existenz, auch Universitäten und Forschungsinstitute nicht. Doch ein Zentrum, das mehr als 40 Jahre lang ausserordentlich erfolgreich gewesen ist, viele angesehene Wissenschaftler und kanonische Publikationen hervorgebracht hat, hätte allerdings das Recht, zu erfahren, warum es nun selbst bald zur Geschichte gehören soll, insbesondere dann, wenn wissenschaftliche Gründe anscheinend nicht der Grund gewesen sind. Aber nein, darüber erfährt man nichts.

Nun muss vom Wellcome Trust die Rede sein. Das ist eine der reichsten nicht-staatlichen Stiftungen überhaupt, ausgestattet mit einem Vermögen von 13 Milliarden britischen Pfund. Nicht weniger als 600 Millionen Pfund werden pro Jahr in die Forschung investiert. «We support the brightest minds in biomedical research and the medical humanities», heisst es denn auch auf der Website des Trust. Dass die «medical humanities» ausdrücklich vertreten sind, liegt an niemand anderem als Sir Henry Wellcome (1853-1936), Begründer des Pharmaunternehmens und des Trust. In seinem Testament legte der schillernde Geschäftsmann, Sammler und Philanthrop fest, dass stets auch die Medizingeschichte durch seine Stiftung gefördert werden sollte. Das wird auch weiterhin so bleiben, aber nur in der Gestalt von Forschungsprojekten, die in wenigen Jahren bewältigbar sind.

Projektförderung ist eine unverzichtbare und doch zweischneidige Angelegenheit. Könnten, sagen wir, die Neurowissenschaften überleben, wenn sie sich nur von Projekten ernähren müssten, wenn es nicht auch Institute und Zentren gäbe, an denen geforscht und ausgebildet und über einen längeren Zeitraum Forschungsvorhaben verfolgt werden könnten? Wohl kaum. Eine Wissenschaft kann nur existieren, wenn sie auf unterschiedlichen Ebenen gefördert wird. Eine ausschliessliche Aussicht auf den Durchlauferhitzer der Projektförderung zieht niemanden an. Ohne charismatische und lebhafte Institutionen (in heutiger Amtssprache: Leuchttürme), an denen man sich orientieren oder gegen die man sich positionieren kann (übrigens auch eine nicht zu verachtende Funktion solcher Zentren), dürfte eine Wissenschaft kaum überlebensfähig sein. Und so könnte es den «medical humanities» am Ende gehen. Armes England.

Der Wellcome Trust ist stolz auf seine Geschichte. Am 1. März 2010 meldete er auf seiner Website: «The rich history of the Wellcome Trust can now be explored through an interactive timeline spanning over 70 years.» Die Schliessung des Londoner Wellcome Center sucht man vergebens unter den News des Trust. Das freilich kann nichts daran ändern, dass die «reiche» Geschichte des Wellcome Trust nun durch einen einzigartigen Akt der Wissenschaftsvernichtung noch reicher geworden ist.

Zum Autor

Michael Hagner ist seit 2003 Professor für Wissenschaftsforschung am Departement für Geistes- und Sozialwissenschaften (D-GESS). Von 1980 bis 1986 studierte er an der Freien Universität Berlin Medizin und Philosophie. 1987 erfolgte die Promotion zum Dr. med. Nach seinem Postdoc am Neurophysiologischen Institut der Freien Universität schlug er einen für Mediziner eher ungewöhnlichen Forschungsweg ein und befasste sich mehr und mehr mit Medizin- und Wissenschaftsgeschichte. In diesem Gebiet habilitierte er sich 1994 an der Georg-August Universität Göttingen, bevor er für acht Jahre am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte arbeitete. Für seine Forschungen, insbesondere zur Geschichte der Neurowissenschaften, wurde er mehrfach geehrt: Er war Fellow unter anderem am Collegium Helveticum der ETH Zürich, am Zentrum für Literatur und Kulturforschung in Berlin und an der Maison des Sciences de l'homme in Paris. 2008 erhielt er den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, deren Mitglied er seit 2009 ist.

 
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